Debatte um Trinkgeld: Bessere Löhne braucht das Land
Das Zahlen von Trinkgeld ist in der Gastro oft nötig, um schlechte Löhne auszugleichen. Im Einzelhandel ist das nicht möglich. Beides ist ungerecht.
In einem taz-Interview sagte der Sozialpsychologe und Trinkgeldforscher Michael Lynn: „Ein Restaurantbesuch beruht auf einem sozialen Vertrag. Das ist eine implizite Übereinkunft, mit der man anhand bestimmter sozialer Erwartungen interagiert: Ich werde bedient, im Gegenzug gebe ich etwas zurück.“
Sagen wir: im Idealfall. Als Abiturientin habe ich in einem Hamburger Ratskeller gekellnert. Ich erinnere mich noch an einen Abend unter der Woche, ich bin alleine, nur ein Trio gut betuchter Touristen ist noch im Laden. Auf ausgiebiges Essen folgt eine feuchtfröhliche Nacht, sie bestellen ein Getränk nach dem anderen. Geld spielt offenbar keine Rolle.
Sie sind die letzten, wissen sicherlich: wenn sie gehen, kann ich den Laden schließen. Ich kümmere mich gut um sie, gebe Stadttipps, lasse mir den einen oder anderen anzüglichen Spruch gefallen. Und am Ende: Runden sie ganz großzügig die Rechnung von etwa 147 Euro auf 150 Euro auf. Extrem frustrierend, gerade, wenn man jung ist und sich in großen Teilen selbst finanziert.
Das fiel mir wieder ein, als kürzlich eine Debatte ums Trinkgeld geführt wurde, losgetreten von ARD-Moderatorin Anja Reschke. „Keiner will mehr in der Gastro arbeiten? Kein Wunder“, twitterte sie, und benennt damit nichts Neues: Nicht erst seit der Pandemie leidet die Gastronomie-Branche unter starkem Arbeitskräftemangel.
Für 7.000 Euro essen, aber kein Trinkgeld geben
Zur Erklärung beschreibt Reschke die Erfahrungen einer Bekannten, die neben dem Studium als Kellnerin in einem schicken Hamburger Lokal jobbt. Dort sei ein 70. Geburtstag gefeiert worden, Rechnung: knapp 7.000 Euro. Trinkgeld: keins. Trotz großer Festgesellschaft und zufriedenem Gastgeber. Das sei keine Ausnahme. Reschke ist echauffiert: Das Trinkgeld nehme seit Jahren ab, aber Gastrokräfte im Service und in der Küche seien darauf angewiesen.
Reschke hat Recht: Trinkgeld stellt in Deutschland einen erheblichen und nötigen Teil des Einkommens von Arbeitnehmer:innen in der Gastro dar. Der Knigge empfiehlt, 10 Prozent der Rechnung an Trinkgeld obendrauf zu legen.
Ich habe damals zum Mindestlohn von 8 Euro pro Stunde gearbeitet. Es machte einen enormen Unterschied, ob am Ende einer Schicht 80 Euro oder, wenn’s besonders gut lief, 100 Euro bleiben. Heute beträgt der Mindestlohn, der in vielen Gastronomiebetrieben gezahlt wird, 10,45 Euro, ab Oktober dieses Jahres soll er auf 12 Euro erhöht werden. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten ist das immer noch nicht genug, um auf Trinkgeld verzichten zu können.
Aber ist nicht genau das das Problem? Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, sollten auf Trinkgeld nicht zwingend angewiesen sein, um gut über die Runden zu kommen. Wenn wir schon beim Thema sind: Wer gibt eigentlich regelmäßig Paketbotinnen, Müllmännern und -frauen oder Friseuren Trinkgeld?
Auch Grünen-Politiker Volker Beck kommentiert: „Das Problem [ist] der zu geringe Lohn. Das Einkommen sollte nicht vom Wohlwollen der Gäste abhängen.“ Man könnte hinzufügen: Insbesondere, wenn auch die Gäste in Zeiten der Inflation zunehmend weniger in der Tasche haben.
Das Problem ist der geringe Lohn
SPD-Politiker und Gesundheitsminister Karl Lauterbach dagegen scheint die Verantwortung für ein ordentliches Einkommen für Gastronomieangestellte auf Kund:innen abwälzen zu wollen. Er ließ verlauten, gerade wegen der dauernden Ansteckungsgefahr sei es unverständlich, dass nicht großzügiger Trinkgeld gegeben werde. Menschen in der Gastronomie arbeiteten hart und trügen oft ein erhebliches Risiko.
Klar, Herr Lauterbach, das stimmt. Doch das gilt ja ebenso für Angestellte im Einzelhandel oder Kassierer:innen, die im bundesdeutschen Durchschnitt besonders schlecht bezahlt werden. Während der ersten Coronawelle mag fleißig für sie geklatscht worden sein.
Aber es wäre niemand auf die Idee gekommen, von Kund:innen zu fordern, ihnen Trinkgeld zu geben, um ihre niedrigen Löhne auszugleichen. Und in der Politik scheint aktuell auch niemand über höhere Löhne für sie nachzudenken, auch nicht bei der SPD.
Abschaffen würde ich Trinkgeld deshalb trotzdem nicht. Es ist durchaus geeignet als Geste der persönlichen Wertschätzung gegenüber Kellner:innen. Ich habe mich immer drüber gefreut, und für einige Menschen mag es auch eine Form von „aktivem Altruismus“ sein, so Trinkgeldforscher Michael Lynn. „Wir haben das Bedürfnis, etwas zurückzugeben, wenn uns jemand einen Gefallen tut. Die Aufmerksamkeit, mit der uns eine Bedienung umsorgt, erwidern wir mit Trinkgeld.“
Gesellschaftliche und politische Verfehlungen Kundinnen und Konsumenten aufzulasten, ist allerdings der falsche Weg. Dass wir aufgrund zu niedriger Löhne überhaupt darüber sprechen, ist symptomatisch für einen Arbeitsmarkt, in dem es grundsätzlich an Respekt für Dienstleistungsberufe mangelt.
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