Sozialpsychologe über Trinkgeld: Stimmt so!
Wann gibt man welches und wie viel? Warum kriegt die Verkäuferin keines, aber die Kellnerin schon? Experte Michael Lynn verrät es.
taz am wochenende: Herr Lynn, Sie sind Sozialpsychologe und Experte für Trinkgeldforschung. Wie kamen Sie dazu?
Michael Lynn: Ich habe auf dem College gekellnert und als Barkeeper gearbeitet, um meine Studiengebühren bezahlen zu können. Das hat Trinkgelder für mich relevant gemacht. Mit der Zeit interessierte ich mich für die Schnittstelle von Psychologie und Ökonomie, denn ich finde es eigenartig, dass Menschen mehr für etwas zahlen, als sie müssen. Genau das ist es aber, was wir tun, wenn wir Trinkgeld geben.
Wie kann man das erklären?
Wirtschaftswissenschaftliche Theorien gehen davon aus, dass Menschen überwiegend rational handeln und Kund*innen deshalb aus Kalkül Trinkgeld geben. Restaurantbesucher*innen zahlen also nur extra, weil sie sich davon eine bessere Servicequalität in der Zukunft versprechen. Es scheint logisch: Geben Gäste in einer Lokalität Trinkgeld, wenn Sie zufrieden gewesen sind, lernen Kellner*innen mit der Zeit, dass sie belohnt werden, wenn sie sich ins Zeug legen. So zumindest das Argument von Ökonom*innen.
Was halten Sie davon?
Meine Forschung liefert keinen Beweis für die Richtigkeit der Theorie. Gäste geben selbst dann Trinkgeld, wenn sie wissen, dass sie das Restaurant nie wieder besuchen werden. Manchmal erhalten Kellner*innen lausige Trinkgelder, obwohl sie großartige Arbeit geleistet haben.
Wollen Gäste mit Trinkgeldern etwas Gutes tun?
ist Sozialpsychologe und Professor für „Food and Beverage Management“ an der Cornell University. Sein Schwerpunkt ist Trinkgeldforschung. Er gibt außerdem Zeitschriften zum Thema Marketing und Gastfreundschaft heraus.
Fakt ist, dass wir uns um andere Menschen sorgen und ihnen helfen wollen. Jobs in der Gastronomie sind schlecht bezahlt, in den Vereinigten Staaten erhalten Kellner*innen weniger als den Mindestlohn. Es gibt Leute, für die Trinkgeld eine Form von aktivem Altruismus darstellt. Wir haben das Bedürfnis, etwas zurückzugeben, wenn uns jemand einen Gefallen tut. Die Aufmerksamkeit, mit der uns eine Bedienung umsorgt, erwidern wir mit Trinkgeld.
Inwieweit regeln soziale Normen die Situation?
Ein Restaurantbesuch beruht auf einem sozialen Vertrag. Das ist eine implizite Übereinkunft, mit der man in Situationen entsprechend sozialen Erwartungen interagiert: Ich werde bedient, im Gegenzug gebe ich etwas zurück. Es gibt allerdings weitere Motive als gegenseitiges Geben und Nehmen. Manche wollen protzen, andere hoffen, dass die Kellner*in gut von ihnen denkt. Im Grunde erkauft man sich Wertschätzung, sowohl von den Servicekräften als auch von Gästen, die mitbekommen, wie hoch das Trinkgeld ist.
Warum ist es üblich, Kellner*innen, Taxifahrer*innen und Friseur*innen Trinkgeld zu geben, anderen gering bezahlten Berufsgruppen jedoch nicht?
Grundsätzlich vergüten wir Dienstleistungen extra, die mit einem niedrigen sozialen Status assoziiert, schlecht bezahlt und für die keine besonderen Fähigkeiten nötig sind. Trinkgeld erhalten also Kellner*innen und Hotelangestellte, Ärzt*innen und Anwält*innen dagegen nicht. Tendenziell sind „Tips“ dort normal, wo Geld auf direktem Wege ausgetauscht wird. Das ist bequemer und eröffnet andererseits die Möglichkeit, das Rückgeld zu kontrollieren.
Gibt es noch weitere Gründe?
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Es ist für Kunden einfacher als für Vorgesetzte, die Qualität einer Dienstleistung zu bewerten. Sie sind näher am Geschehen. Beispiel Taxifahrer*innen: Der Chef sitzt nicht mit im Auto, er weiß nicht, ob seine Angestellt*en einen guten Job machen – der Fahrgast schon. Deshalb hat es Sinn, ein Stück der Verantwortung auf den Gast zu übertragen, der seine Zufriedenheit mit einem Trinkgeld ausdrückt.
Wenn mein Abfluss verstopft ist und Handwerker*innen kommen, biete ich ihnen für gewöhnlich einen Kaffee, aber kein Trinkgeld an. Wieso?
Weiß ich nicht. Interessant ist aber, dass das Wort für diese Art der Bezahlung in einer Reihe von Sprachen „zum Trinken“ oder „Geld für Getränke“ bedeutet …
… in Deutschland übrigens auch.
Jemandem einen Kaffee anzubieten, ist nicht so weit entfernt davon, einer Person Geld für einen Kaffee zu geben. Der Anthropologe George M. Foster hat folgende Theorie entwickelt: Kund*innen, die bedient werden, geht es gut. Sie haben Spaß, vor allem an Orten, an denen man isst und trinkt. Die Servicekräfte hingegen haben nicht wirklich Spaß, schließlich arbeiten sie. Das kreiert ein Gefälle und Kellner*innen beneiden ihre Kundschaft dafür. Foster wusste, dass Menschen es nicht mögen, beneidet zu werden. Also sind Trinkgelder ihm zufolge eine Art, zu sagen: Hey, bitte sei nicht neidisch. Hier ist ein bisschen Geld, damit du dir nach deiner Schicht ein Getränk gönnen kannst.
Seit wann gibt es Trinkgeld?
Das ist nicht ganz klar. Einer der frühesten Hinweise, die mir bekannt sind, stammt aus dem 16. Jahrhundert. Auch George Washington und Thomas Jefferson, zwei der Gründerväter der USA, sollen ihren Sklav*innen gelegentlich Trinkgeld gegeben haben.
Wie unterscheiden sich Trinkgeldkulturen?
Entscheidend sind da vor allem überindividuelle Wesenszüge einer Gesellschaft. In Ländern, in denen die Bevölkerung besonders extrovertiert und kontaktfreudig ist, geben Menschen häufiger und mehr Trinkgeld. Bürger*innen eines Landes, in dem eher neurotische und ängstliche Menschen leben, geben zwar seltener Trinkgeld, aber wenn, nicht weniger. Und je brutaler eine Gesellschaft ist, desto weniger und seltener wird Trinkgeld gegeben.
Geben Arme weniger oder mehr?
Das ist eindeutig: Sie geben weniger Trinkgeld als wohlhabende Menschen – sowohl was die Häufigkeit als auch was die Höhe angeht. Es gibt die Ansicht, dass sich ärmere Menschen eher in Kellner*innen hineinversetzen können. Die Statusdifferenz ist nicht hoch. Wenn dem so wäre, müssten sie großzügiger sein als reiche Leute, die auf Servicekräfte herabblicken. So einfach ist es aber nicht. Was ich herausgefunden habe, ist, dass Trinkgelder vor allem in Ländern mit großen Machtgefällen Usus sind. In egalitären Gesellschaften, zum Beispiel in Skandinavien, sind Trinkgelder weniger verbreitet.
Viele fühlen sich unwohl beim Trinkgeldgeben, gar beschämt. Wieso ist das so?
Die deutschen Gepflogenheiten sind mir nicht geläufig, aber in den USA weiß jeder und jede, dass man in Restaurants 15 bis 20 Prozent Trinkgeld gibt …
… in Deutschland etwa 10 Prozent.
Geht es nach sozialen Normen und Erwartungen, solltest du dich natürlich schämen, wenn du sie nicht erfüllst. Allerdings gibt es Umstände, in denen Normen nicht so stark wirken. Zum Beispiel am Schalter eines Cafés, auf dem ein Trinkgeldglas steht. Ich zumindest sehe mich nicht verpflichtet, Geld in das Gefäß zu werfen. Wenn ich nicht gerade Extrawünsche habe und nur einen Kaffee und einen Donut bestelle, gebe ich kein Trinkgeld. Ich schäme mich nicht, weil ich keinen Erwartungsdruck verspüre.
Es gibt Menschen, die sich auch in dieser Situation schämen.
Es kümmert sie, was die Bedienung von ihnen hält. Das ist menschlich, wir sind soziale Kreaturen und sorgen uns darum, was andere von uns denken. Manche mehr als andere.
In Italien und Frankreich ist es üblich, das Trinkgeld auf dem Tisch oder diskret in einer Schatulle zu hinterlassen, nachdem man gegangen ist. Hilft das gegen die Scham?
Es verringert sie auf jeden Fall. Im Prinzip sind Trinkgelder wie Geschenke: Selbstverständlich freut mein Gegenüber sich, wenn ich ihn oder sie beschenke. Doch zu entscheiden, was man spendiert, wenn ebendiese Person über deine Schulter blickt, ist problematisch. Geld auf dem Tisch zurückzulassen schafft Distanz. Bei elektronischen Bezahlweisen gibt es auch Druck. Wenn Restaurantgäste mit Kredit- oder EC-Karte zahlen, bietet das Gerät in den USA Trinkgeldoptionen an, beispielsweise 15, 20 oder 25 Prozent. Man muss sich sofort entscheiden. Interessanterweise geben Menschen unter solchen Umständen mehr Trinkgeld als in weniger angespannten Situationen.
Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel wies 1807 auf die Dialektik von Herr und Knecht hin. Beiden ist in diesem Verhältnis Anerkennung versagt. Spielt dieses Verhältnis auch beim Trinkgeldgeben eine Rolle?
Ja, es gibt Stimmen, die argumentieren, dass Kellner*innen durch Trinkgelder in eine unterwürfige Position gebracht werden. Die Servicekräfte sind nämlich von der Großzügigkeit ihrer Kundschaft abhängig. Gäste wiederum sind Gebietende, die die Leistung des Personals bewerten und dann entscheiden: Bezahle ich dich, oder lasse ich es sein? Das gibt ihnen Macht und versetzt Kellner*innen in eine devote Position.
Aus diesen Gründen gab es um das 19. Jahrhundert herum Bewegungen, die Trinkgelder abschaffen wollten, etwa die „Anti-Trinkgeld-Liga“ in Hamburg.
In der Tat gab es diese Bewegungen, auch in den Vereinigten Staaten. In ihren Augen trugen Trinkgelder dazu bei, sklavische Abhängigkeiten zu reproduzieren. Manchmal tendiere ich dazu, Trinkgelder abzuschaffen, dann will ich sie wieder beibehalten. Insgesamt gibt es, zumindest in den USA, mehr Menschen, die Trinkgelder gut finden, als solche, die sie ablehnen. Trinkgeld erzeugt Druck, andererseits ist es eine Möglichkeit, jemandem Geld zu geben, der oder die es wirklich braucht.
Hilft es, wenn das Personal das Trinkgeld untereinander aufteilt?
Als ich auf dem College gekellnert habe, bekam ich durch Tips mehr Geld, als jede und jeder Arbeitgebende mir in Lohn hätte zahlen können. Servicekräfte verdienen in New York meistens doppelt so viel wie Köch*innen, sie werden durch Trinkgeld überbezahlt. Deshalb kann es tatsächlich Abhilfe schaffen, das Trinkgeld unter allen aufzuteilen.
Ist ein besseres System vorstellbar?
In den USA nehmen Servicekräfte 15 bis 20 Prozent der Rechnung mit nach Hause, wogegen die Profitmarge des Restaurantbetreibenden 8 bis 10 Prozent beträgt. Das erzeugt Spannungen zwischen Kellner*innen, Küche und Management. Gliedert man aber einen bestimmten Trinkgeldsatz in die Rechnung ein, steigen die Preise. Gäste denken dann, das Restaurant sei teurer als die Konkurrenz, obwohl die Preise im Endeffekt gar nicht höher sind. In manchen europäischen Ländern hat man versucht, das Service-Extra in den Preis zu integrieren. Nach und nach begannen die Leute aber doch wieder, Trinkgelder on top zu geben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett