Debatte um Meinungsfreiheit: Eine Chance, kein Arschloch zu sein
Unsere Debattenkultur ist nicht elitär. Diskriminierungsfreie Sprache ist keine Frage der Bildung, sondern eine der Offenheit.
Wie laut es in einem Schweinestall ist, wusste ich schon als Kind. Welche Welt Bücher eröffnen können, erst sehr viel später. Wo ich aufgewachsen bin, gibt es mehr Schweine als Bücher und mehr Kühe als Menschen. Dass ich aufs Gymnasium gehen wollte, wurde als „Extrawurst“ bezeichnet, das Thema „Studium“ war ein rotes Tuch. Das Geld, das mein hart arbeitender Vater verdiente, reichte immer gerade so und eben nicht für Extrawürste oder rote Tücher. Als „bildungsfern“ würden einige das Umfeld, in dem ich aufwuchs, bezeichnen. Ich bin ein Arbeiterkind, sage ich heute. Den Begriff musste ich auch erst einmal lernen.
In unserer Straße wohnte auch meine Freundin Anika. Zuerst lebte sie dort mit ihrer Mutter und ihrem Vater. Irgendwann mit zwei Müttern, denn die Frau, die ich als ihren Vater kennengelernt hatte, war eigentlich ihre Mutter. Das erzählte sie uns – also dem ganzen Dorf – bei einem Dorffest. Ich weiß noch, dass meine Eltern mir erklärten, dass Anikas Vater sich dazu entschieden habe, als Frau zu leben und jetzt Anikas Mutter sei und einen anderen Namen habe.
Zu Anika habe ich heute keinen Kontakt mehr, deshalb kann ich sie oder ihre Mütter nicht fragen, wie das damals für sie war. Ich weiß nicht, wie es sich angefühlt hat, die Transition in unserem kleinen Dorf zu verbringen. Was ich aber weiß: Die Leute aus unserem Dorf hielten sich an die Bitte, Anikas zweite Mutter bei ihrem neuen Namen anzusprechen. Und zwar alle.
Die Frage, wie man heute sprechen soll, stellen sich aktuell viele Menschen. „Wie war nochmal das korrekte Wort?“, steht über einem Artikel der Zeit zum Thema Meinungsfreiheit. Die These: Unsere Debattenkultur sei elitär und schließe Menschen aus bildungsfernen Milieus aus. Das sehe ich anders.
Man muss mit einem Echo rechnen
Das Gefühl der Ausgeschlossenheit resultiert aus einem Unwohlsein. Menschen, die viele Jahre ihres Lebens sprachen, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, bekommen heute Widerspruch zu hören, werden gar kritisiert. Das fühlt sich dann an, als könne man nicht mehr alles sagen. Dabei kann man einfach nur nicht mehr jeden Scheiß sagen, ohne mit einem Echo rechnen zu müssen.
„Die Klage von angeblichen Meinungsverboten kommt auffallend oft von Leuten, die es gewohnt waren, unwidersprochen zu bleiben. Wenn man nachhakt, stellt sich meist raus, dass Kritik und Widerspruch mit Meinungsverbot gleichgesetzt wird“, twitterte die Soziologin Franziska Schutzbach. Laut unserem Grundgesetz können wir alles sagen, was nicht die Würde eines anderen Menschen verletzt. Und das ist der Punkt: Man sollte nicht alles sagen, wenn man kein Arschloch sein will.
Wenn man das nicht sein will, ist es eigentlich gar nicht so schwer: Es braucht keinen besonderen Bildungsabschluss, kein Hochschulstudium und keinen Doktortitel, es braucht einfach nur eine Frage: „Wie ist es gut für dich?“ Und dann die Offenheit, die Antwort wirklich hören zu wollen und sich dementsprechend zu verhalten.
Das ist die Grundlage dafür, diskriminierungsfreie Sprache zu nutzen. Übrigens: Arschloch ist zwar eine Beleidigung, dabei aber nicht diskriminierend. Diskriminierende Sprache erkennt man daran, dass sie eine bestimmte Gruppe mit negativen Eigenschaften belegt. Meist sind das Gruppen, die eh schon von Benachteiligungen betroffen sind. Eine benachteiligte Gruppe von Arschlöchern gibt es meines Wissens nach nicht. Schade eigentlich.
Meine Sprache hat sich angepasst
Ich war vielleicht zehn Jahre alt und mir wäre überhaupt nicht in den Sinn gekommen, Anikas zweite Mutter nicht als solche anzusprechen. Klar, am Anfang war das ungewohnt, ich stolperte noch manchmal über den alten Namen oder sagte, wenn ich mit Anika sprach,„dein Papa“ statt „deine Mama“. Aber dann entschuldigte ich mich dafür. Nach kurzer Zeit hatte ich mich daran gewöhnt. Meine Sprache hatte sich angepasst. Genau wie es unsere Sprache macht, wenn wir versuchen, diskriminierungsfreier zu sprechen.
Immer mehr Stimmen werden in den Medien und der Politik sicht- und hörbar, die lange Zeit nicht gesehen und gehört wurden. Diesen Stimmen haben wir es zu verdanken, dass wir immer mehr und immer weiter nachdenken können, wie wir sprechen wollen. Menschen, die von Rassismus betroffen sind, Menschen, die von Behindertenfeindlichkeit betroffen sind, Menschen, die von Sexismus betroffen sind. Sie sagen: So wollen wir nicht bezeichnet werden, das tut uns weh. Oder auch: Wir kommen in den Wörtern nicht vor, wir brauchen neue.
Die sich daraus ergebene neue Vielfalt der Sprache ist für uns alle eine große Chance. Wir können mit der Entwicklung unserer Sprache mit mehr Menschen kommunizieren als bisher. Unsere Welt wird größer und auch die der anderen. Wir schließen nicht mehr aus, sondern schließen Menschen ein. Wir haben die Möglichkeit, Menschen sicht- und hörbar zu machen. Dadurch, dass wir Worte verwenden – und auf andere verzichten.
Wir brauchen dafür gar nicht so viel. Wir brauchen dafür nur die Offenheit, mit Verunsicherungen umzugehen, zu unseren Verunsicherungen zu stehen. Auch mal zu fragen: „Ist das so in Ordnung?“ Und dann Offenheit für Kritik. Vielleicht ist es so nicht in Ordnung, dann probieren wir es anders. Dass wir Fehler machen, wenn wir etwas neu machen, ist okay.
Es geht dann darum, uns bei den Menschen, die wir mit unseren Fehlern möglicherweise diskriminiert haben, zu entschuldigen. Und darum, aus ihnen zu lernen. Und nicht darum, diskriminierende Formulierungen, Narrative oder Bildsprache immer und immer wieder zu reproduzieren, wie es zur Zeit viele Medien tun.
In den zuletzt erschienen Artikeln wird gern eine Zahl aus einer Umfrage von Allensbach zitiert, sie soll für die „Angst vor Meinungsäußerung“ stehen: 78 Prozent der Deutschen glauben, man müsse in der Öffentlichkeit mit Kommentaren zu „einigen oder vielen“ Themen vorsichtig sein. Ich finde das wunderbar! Ja, wir sollten vorsichtig sein miteinander. In jeder Hinsicht, auch sprachlich. Übrigens mit allen. Die Debatte, wie wir sie führen, schließt nämlich tatsächlich Menschen aus.
Zum Beispiel Menschen, die auf Leichte Sprache angewiesen sind. Leichte Sprache richtet sich an Menschen mit Lernschwierigkeiten, ist aber für alle gut. Für Menschen mit Demenz, für Kinder und für Menschen, die unsere Sprache lernen. Diese Menschen werden oft nicht gehört, weil sie sich von Artikeln nicht angesprochen fühlen (weil sie nicht angesprochen sind). Politik und Medien richten sich zumeist an Menschen, die schwierige Sprache verstehen. Dabei macht es alle Debatten gerechter, wenn wir probieren, sie verständlicher zu formulieren.
Ein Versuch der Leichten Sprache
Viele Menschen wollen ihre Meinung nicht sagen.
Sie haben Angst davor.
Aber: Es ist nicht verboten, die eigene Meinung zu sagen.
Warum haben viele Menschen Angst davor?
Sie denken: Vielleicht haben andere Menschen eine andere Meinung?
Diese Meinung könnte sie dann auch sagen.
Das nennt man Kritik.
Man kann also auch sagen: Manche Menschen haben Angst vor Kritik.
Aber: Es ist gut, wenn viele verschiedene Menschen mitreden.
Es ist gut, wenn verschiedene Meinungen gesagt werden.
Und wenn sie gehört werden.
Bewusste Sprachnutzung
Unsere Sprache ist ein großer Schatz. Wir können mit ihr erklären, aufklären, philosophieren, einschließen, ausschließen, verletzen und um Entschuldigung bitten. „Sprache ist ein machtvolles Instrument“, sagt die Autorin Kübra Gümüşay. Die, die dieses Instrument gut spielen können, sind in der Verantwortung, Sprache bewusst zu nutzen.
Als trans* Person das Jahr vor der Geschlechtsangleichung in unserem Dorf zu verbringen, war vermutlich nicht leicht. Was aber leicht war, war, es ihr leichter zu machen. Es ging um ein paar Worte, neue Formulierungen. Kurz ungewohnt, irgendwann dann selbstverständlich. Das konnte nicht nur die – zugegeben sehr kleine – Bildungselite in unserem Dorf, das konnten alle. Landwirtinnen, Lehrer, Hausmänner, Krankenpfleger und zehnjährige Kinder.
Dass wir alles sagen dürfen, heißt noch lange nicht, dass wir alles sagen sollten. Wir haben mit unserer Sprache die Möglichkeit, Menschen nicht zu diskriminieren. Wir können so formulieren, dass wir verstanden werden. Wir können sprechen, ohne zu verletzen. Unsere Sprache ermöglicht uns, kein Arschloch zu sein. Warum sollten wir es dann trotzdem tun?
Beratung zur Leichten Sprache von der Dolmetscherin für Leichte Sprache Anne Leichtfuß.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“