Debatte um Coronamesswerte: Wir brauchen die „Inzidenz“
Die „7-Tage-Inzidenz“ wird zuletzt weniger beachtet als die Zahl der Hospitalisierungen. Dafür gibt es Gründe. Aber den Wert aufzugeben, wäre fatal.
E s war einmal ein Land mitten in Europa, da kannten sich die Menschen aus. Es war Pandemie, der Kontakt zu anderen war nicht mehr so easy wie früher, aber jede:r in Deutschland kannte eine Richtschnur, einen Wert, den man morgens im Radio hörte oder im Internet sah: die 7-Tage-Inzidenz. Man wusste: Oh, über 35, langsam muss man sich wieder Sorgen machen. Hm, 50, jetzt wird es heikel. Über 100? Nun gehe ich wirklich nicht mehr ohne Maske vor die Tür. Vermeide Besuche bei Oma und Opa. Gehe am besten allen aus dem Weg.
So weit, so klar. Und das, obwohl gewiss nicht jede:r genau erklären konnte, was es mit dieser Inzidenz auf sich hat; was diese soundsoviel Neuinfektionen pro Hunderttausend Einwohner:innen bedeuten: mathematisch, politisch oder ganz praktisch. Nach anderthalb Jahren Pandemie und drei hoch- und wieder runterschwappenden Wellen hatte man jedoch gelernt, sich nach diesem Wert zu richten. Werte geben Orientierung.
Dann kam die Impfung. Endlich. Aber sie hatte eine Nebenwirkung: Sie brachte die Werte ins Wanken.
Tatsächlich muss man sehen, dass eine Infektionsrate heute nicht mehr dasselbe bedeutet wie eine gleich hohe Inzidenzzahl noch vor einem Jahr. Denn dank der – leider immer noch unzureichenden – Impfungen erkranken deutlich weniger Infizierte an Covid-19, kommen weniger Erkrankte ins Krankenhaus und weniger Patient:innen auf Intensivstationen. Streng ökonomisch heißt das: Deutschland kann sich mehr Infizierte leisten, ohne das Krankenhaussystem zu überlasten.
Die Zahl der Hospitalisierungen taugt als Warnwert wenig
Das ist erfreulich. Allerdings fehlt den Normalsterblichen ohne den Inzidenzwert die Orientierung beim Umgang mit dem weiterhin potenziell tödlichen Virus.
Insofern war es cool von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass er sich im Sommer auf die Suche nach einem neuen Messwert machte – und die sogenannte Hospitalisierungsrate auftat. Die zählt nicht mehr die Neuinfizierten, sondern die, die ins Krankenhaus müssen. Ein weiterer Unterschied: Für Hospitalisierungen gibt es keinen bundeseinheitlichen Schwellenwert, sondern Regelungen je nach Ausstattung der Kliniken in den Ländern. Sie ist zuden ein Wert unter mehreren, mit dem sich der Stand der Pandemie lokal sehr differenziert bewerten lässt. Man ist näher dran am Problem. Also alles gut? Leider nein.
Denn die Hospitalisierungsrate schafft wiederum mehrere Probleme. Erstens: Weil Menschen sich erst infizieren und später ins Krankenhaus kommen, steigt – oder fällt – der Wert verglichen mit der Inzidenz der Neuinfektionen erst Tage später. Sie ist also ein Warnwert mit Verspätung. Zweitens: Wegen vieler Nachmeldungen wird die Rate regelmäßig um bis zu 100 Prozent nach oben korrigiert. Der Wert, den das Robert Koch-Institut also täglich durchgibt, ist meistens viel zu tief. Wie viele Coronapatient:innen heute tatsächlich in den Kliniken liegen, weiß man erst in drei bis vier Wochen. Für einen Warnwert ist all das fatal.
In Thüringen, dem aktuell am stärksten von Corona betroffenen Bundesland, hat sich die Hospitalisierungsrate binnen einer Woche fast verdoppelt, sie stieg am Montag auf 7,74. Damit hätte dieser Indikator laut der Thüringer Sars-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung die Schwelle für die Warnstufe 2 überschritten.
Wer nicht vom Fach ist, verliert die Orientierung
Faktisch wird man in mehreren Wochen feststellen, dass die Rate heute schon für die Ausrufung der höchsten Warnstufe 3 gereicht hätte – sofern weitere Werte wie die alte Inzidenz auch hoch genug gewesen sein werden. Nicht bundesweit, sondern nur im jeweiligen Landkreis.
Sie kommen nicht mehr mit?
Eben.
Die Hospitalisierungsrate ist für die Normalbürger:innen schlichtweg unverständlich. Hinzu kommt ein psychologischer Effekt: Gefühlt verlagert der neue Wert das Problem in die Krankenhäuser. Der Mensch draußen auf der Straße nimmt an, er oder sie habe damit nichts mehr zu tun. Der Differenzierungs- und Anpassungswille des Bundesgesundheitsministers führt also dazu, dass Nichtfachleute orientierungslos werden. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen einfach tun, was sie für richtig halten.
Das ist leider gefährlich. Und eigentlich unverantwortlich. Bei aller Differenzierung: Ohne die Inzidenz als Frühwarnwert werden wir nicht auskommen. Sie betrug übrigens am Montag 110.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau