Debatte über 9-Euro-Ticket: Berlin fährt schon mal los
Rot-Grün-Rot will auf eigene Faust eine Nachfolgelösung für das 9-Euro-Ticket in Berlin bis Dezember. Das ist ein schlauer (Schach-)Zug.
W enn die Berliner SPD mit Vorschlägen kommt, wie man dem grünen Finanzsenator Daniel Wesener ein bisschen Geld aus seiner ganz gut gefüllten Schatulle luchsen kann, sollte man vorsichtig sein: Natürlich haben die Sozialdemokraten in solchen Fällen ein nicht zu geringes Eigeninteresse. Das gilt auch für den Vorschlag der Partei, das 9-Euro-Ticket nur in Berlin bis zum Jahresende zu verlängern. Kostenpunkt: mehrere hundert Millionen Euro.
Die SPD weiß natürlich, dass die Grünen als vollmundige Unterstützer des ÖPNV dieser Idee trotz der hohen Kosten wenig entgegensetzen können – zumal das Ticket zumindest in größeren Städten sehr populär ist. Doch nicht nur vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass sich auch die Grünen beim Koalitionstreffen am Freitag dazu durchgerungen haben, den SPD-Vorstoß grundsätzlich zu unterstützen. Auch wenn noch nicht klar ist, ob es jetzt ein 9-Euro-Ticket, ein 19-Euro-Ticket oder ein 29-Euro-Ticket von Oktober bis Dezember wird.
Denn die Debatte um die Zukunft des All-Inclusive-Tickets ist noch lange nicht gelaufen. Im Gegenteil: Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) weigert sich in für seine Partei recht untypischer Weise, die eigene erfolgreiche Idee fortzuführen. Er wolle prüfen, wie und wo die Rundumsorglos-Karte für den Nahverkehr in Deutschland funktioniert habe. Da die FDP so manch anderen Nonsens ohne großes Nachdenken forciert oder Sinnvolles ausbremst (Tempolimit!), ist Wissings Vorgehen klassische Verzögerungstaktik.
Für die nächsten Tage sind in Berlin zahlreiche Proteste gegen die Streichung des 9-Euro-Tickets angekündigt. Und letztlich ist eine nur in Berlin geltende Fahrkarte dieser Art erstmal auch nichts anderes als ein starkes politisches Signal in Richtung Wissing, schnell eine eigene Anschlusslösung vorzulegen oder sich einer der vielen vorliegenden Ideen anzuschließen. Das will die Koalition nun offenbar abwarten – aber notfalls wäre es angebracht, eine eigene Lösung ohne Entscheidung des Bundes voranzutreiben.
Es gibt noch ein weiteres starkes Argument für die Verlängerung des Tickets: die soziale Komponente der Fahrkarte angesichts eines sich abzeichnenden Winters mit stark steigenden Kosten für Heizung und andere Teile der Grundversorgung. Vor allem Menschen der unteren Mittelschicht, die nicht reich sind, aber (bisher) auch keine Transferleistungen bekommen, sind besorgt und wohl auch betroffen. Für jene Berliner*innen stellt ein Ticket dieser Art eine sicht- und spürbare finanzielle Entlastung dar.
Das Ticket ist eine Erleichterung für Viele
Spürbar, weil jene, die bereits Monatsticket für BVG und S-Bahn besitzen, noch einmal viel Geld sparen. Und sichtbar, weil es eine klar von der Politik zu kommunizierende Hilfe für die Bürger*innen in den zu erwartenden harten Wintermonaten und angesichts ungerechter Gesetze wie der Gasumlage darstellt – ganz anders als die letztlich etwas hilflos anmutenden Appelle von Politiker*innen, beim Duschen zu sparen oder Waschlappen zu benutzen. Das Ticket erreicht viele, und das ist in der jetzigen Situation richtig.
Zudem stellt es für jene, die keine Monatskarten der BVG haben, einen echten Anreiz dar, das Auto stehen zu lassen und damit Geld zu sparen, und für jene, die kein eigenes Fahrzeug besitzen, eine Möglichkeit, preiswert mobil zu sein. In großen Städten, erst recht in Berlin, braucht man kein Auto: Das ist die Botschaft des 9-Euro-Tickets, und es ist schön, dass auch die SPD das verstanden hat. Denn nur mit dieser Argumentation kann man perspektivisch die parkenden Blechkolonnen an und auf den Straßen reduzieren. Die Grünen sollten sich ihr nicht verschließen.
Natürlich ist die Idee des Tickets – egal ob für 9, 19 oder 29 Euro – nicht perfekt. Aber die Entwicklung der Debatte seit Mai zeigt: Das Ticket ist besser als vieles andere, weil es simpel ist. Zu Beginn lehnten es auch viele progressive Verkehrsexpert*innen ab und forderten, die dafür nötigen 2,5 Milliarden Euro lieber für den Ausbau des ÖPNV zu verwenden. Inzwischen ist die Unterstützung auch in diesen Kreisen deutlich gestiegen. Macht den Nahverkehr preiswert, und der Rest wird folgen.
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