Debatte nach rechter Anti-Corona-Demo: Steinmeier will Polizisten treffen
Am Samstag stürmten Nazis bis vor den Bundestag, nun streiten Politiker*innen über Konsequenzen. Eine Sondersitzung des Ältestenrats wird beantragt.
Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) und die Polizeiführung müssen am Montag (9.00 Uhr) im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses Rede und Antwort stehen zu dem Einsatz bei den Demonstrationen. Im Bundestag wollen SPD- und Unionsfraktion eine Sondersitzung des Ältestenrats beantragen, um Pläne zur Errichtung einer Sicherheitszone am Parlament zu überprüfen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will zudem Polizist*innen in seinen Amtssitz Schloss Bellevue zum Gespräch empfangen, die am Parlamentsgebäude eingesetzt waren. Dort hatten zunächst nur drei Beamte mit Mühe die andrängende Menge vom Eingang ins Plenargebäude ferngehalten.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) nannte es in den ARD-“Tagesthemen“ „verabscheuungswürdig, was da geschehen ist“. Insgesamt sei die Berliner Polizei aber mit der Sache „gut fertig geworden“. Er stellte infrage, dass sie besser darauf hätte vorbereitet sein müssen: „Wie wollen sie darauf vorbereitet sein?“, fragte er rhetorisch. Der Deutschen Presse-Agentur hatte Schäuble zuvor gesagt, dass es überhaupt zu dem Angriff habe kommen können, müsse „schnell und umfassend aufgearbeitet werden“.
Müller will Einsatz analysieren
Steinmeier und Politiker*innen aller Parteien, auch der AfD, hatten das Vorgehen der Demonstranten verurteilt. „Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie. Das werden wir niemals hinnehmen“, sagte Steinmeier.
Er hatte bereits am Sonntag den Polizisten gedankt, „die in schwieriger Lage äußerst besonnen gehandelt haben“. Ähnlich äußerten sich auch Berlins Regierungender Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Innensenator Geisel. „Ich danke der Polizei, dass sie diesen Spuk schnell beendet hat“, sagte Geisel.
Müller will nun „auswerten, wie das Einsatzkonzept der Polizei verbessert werden kann“. Auf Twitter schrieb er aber auch: „Mit Besonnenheit und einem klare Grenzen setzendem Konzept konnte die Polizei an vielen Stellen in der Stadt Schlimmeres verhindern.“
Linksfraktionschef Dietmar Bartsch schlug vor, die Polizisten zu ehren, die zunächst allein den Parlamentseingang geschützt hatten. Mit Bezug auf einen der drei, der sich der Menge ohne Helm entgegengestellt hatte, sagte er im ZDF: „Das ist eigentlich jemand, der ein Bundesverdienstkreuz verdient hat.“
Bannmeile erweitern?
Bundespolitiker von CSU und Grünen regten an, die Beschränkungen für Demonstrationen in unmittelbarer Nähe des Bundestags zu erweitern. Der CSU-Rechtspolitiker Volker Ullrich schlug vor, das faktische Demonstrationsverbot nicht mehr nur auf die Sitzungstage des Parlaments zu beschränken – „mit der Möglichkeit, Ausnahmen zuzulassen“, wie er der Welt sagte. Auch Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sieht Handlungsbedarf.
Innenstaatssekretär Stephan Mayer (CSU) hingegen sagte: „Ich sehe keine unmittelbare Notwendigkeit, aufgrund dieses einen zugegebenermaßen unerträglichen und beschämenden Vorfalls die Bannmeile um den Reichstag zu erweitern oder die Regelungen zu verschärfen.“
Nach Polizeiangaben hatten am Samstagabend etwa 300 bis 400 Demonstrant*innen Absperrgitter am Reichstagsgebäude überrannt und sich triumphierend und lautstark vor dem verglasten Besuchereingang aufgebaut. Dabei wurden vor dem Herzstück der Demokratie auch schwarz-weiß-rote Reichsflaggen geschwenkt. Nach einer Weile bekamen die drei ersten Polizisten Verstärkung, und die Beamt*innen drängten die Menschen auch mit Pfefferspray zurück.
Zuvor hatten nach Schätzungen der Polizei knapp 40.000 Menschen aus ganz Deutschland gegen die Coronapolitik demonstriert. Insgesamt waren laut Polizei noch deutlich mehr Demonstrant*innen bei weiteren Veranstaltungen in der Innenstadt unterwegs. Am Rande kam es zu Stein- und Flaschenwürfen von „Reichsbürgern“ und Rechtsextremisten auf Polizisten.
Oppermann riet von Verbot ab
Bei den Demonstrationen wurden laut Polizei am Samstag 33 Polizisten verletzt. 316 Menschen wurden festgenommen, 131 angezeigt. Insgesamt waren 3.000 Polizist*innen eingesetzt.
Coronagegner*innen scheiterten am späten Sonntagabend mit dem Versuch, beim Bundesverfassungsgericht ein Protestcamp auf der Straße des 17. Juni durchzusetzen. Zuvor hatte bereits das Oberverwaltungsgericht Berlin ein Verbot der Versammlungsbehörde bestätigt. Die Karlsruher Richter*innen sahen den Infektionsschutz nicht gewährleistet.
Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann riet davon ab, die vielfach gezeigten Reichsflaggen zu verbieten. Die mit Hakenkreuz seien verboten, sagte er der Rheinischen Post (Montag). „Alle Varianten und Spielarten dieser Flagge strafbewehrt zu verbieten wäre unverhältnismäßig und kein geeignetes Instrument zur Bekämpfung rechten Gedankenguts.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“