Debatte der Grünen um Migration: Zwischen Humanität und Ordnung
Die grüne Spitze bringt einen Dringlichkeitsantrag zur Migration für den Parteitag ein. Die Debatte birgt Sprengkraft, ist aber unvermeidbar.
In einem Teil der Partei ist der Unmut darüber, welche Verschärfungen in der Geflüchtetenpolitik die Grünen in der Bundesregierung mittragen, groß. Dort hat gerade erst Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann für Aufregung gesorgt, weil er bei der Ministerpräsidentenkonferenz gemeinsam mit der Union das Thema Asylverfahren in Drittstaaten auf die Tagesordnung gesetzt hat. Am Ende landete dies als Prüfauftrag im Abschlusspapier, so ähnlich steht es bereits im Koalitionsvertrag.
Das sei weder realistisch noch mit dem Grundrecht auf Asyl vereinbar, kritisierte Katharina Stolla, Sprecherin der Grünen Jugend, in der taz. Und der Europaabgeordnete Erik Marquardt sagte Kretschmann im Tagesspiegel „eine gefährliche Desorientierung“ nach. Ein anderer Teil der Grünen, darunter der Ministerpräsident, ist der Ansicht, dass eine solche Politik eben nötig sei, will man Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen und vermeiden, zurück in die parteipolitische Nische abzurutschen.
Bewährtes und Neues mit Sprengkraft
Der Antrag mit dem Titel „Humanität und Ordnung: für eine anpackende, pragmatische und menschenrechtsbasierte Asyl- und Migrationspolitik“ enthält für beide Seiten etwas. Der Bundesvorstand hat ihn am Donnerstag beschlossen und eingereicht, am Abend wurde er dann auf der Website der Grünen veröffentlicht. Für vieles, wovon in dem Antrag die Rede ist, setzen sich die Grünen seit Langem ein: eine bessere Unterstützung der Kommunen, mehr Integrationsmaßnahmen, eine schnellstmögliche Arbeitsaufnahme von Geflüchteten und beschleunigte Asylverfahren.
Auch macht sich der Antrag für Seenotrettung, einen besseren Verteilmechanismus innerhalb der Europäischen Union und die Bekämpfung von Fluchtursachen stark. Aber er enthält auch Sätze wie: „Auch wenn wir Punkte, wie etwa die geplante Verlängerung des Grundleistungsbezugs des Asylbewerberleistungsgesetzes oder die Prüfung von Asylverfahren in Transit- und Drittländern kritisieren: Unsere Demokratie ist stark und muss dies durch ihre Lösungs- und Handlungsfähigkeit zeigen.“
Das kann man so lesen, als müsste man dafür das Kritisierte leider hinnehmen. Später im Text wird das „in Großbritannien gescheiterte Ruanda-Modell“ abgelehnt. Viele der Grünen halten dies wie auch die Verlängerung des reduzierten Sozialleistungsbezugs für Asylsuchende wegen rechtlicher Bedenken ohnehin für nicht umsetzbar.
Weiter heißt es in dem Antrag: „Wir wollen Kapazitäten ausbauen, die soziale Infrastruktur stärken und tragfähige Strukturen schaffen. Daneben müssen, wo die Kapazitäten erschöpft sind, durch rechtsstaatliche und menschenwürdige Maßnahmen auch die Zahlen sinken.“ Wie das genau gelingen soll, bleibt allerdings – wie so oft in der Debatte – offen. Genannt werden Rückführungen, die rechtsstaatlich durchgeführt werden müssten, auch dazu brauche es Migrationsabkommen, die es noch zu verhandeln gilt.
Nur eine Politik, die Werte und Wirklichkeit verbinde, werde auf Dauer tragen, heißt es weiter in dem Papier. Darüber, was das konkret bedeutet, dürften die Meinungen bei den Grünen auseinandergehen.
Der viertägige Parteitag kommt vom 23. bis 26. November in Karlsruhe zusammen. Neben der Debatte dieses Antrags und eines weiteren Dringlichkeitsantrags zur Solidarität mit Israel steht die Neuwahl von Bundesvorstand und Parteirat, die Verabschiedung des Programms und die Aufstellung der Kandidat*innen für die Europawahl auf dem Programm. Die Tagesordnung ist sehr eng gesteckt, da dürfte ein Ziel der Parteispitze sein, das schwierige Thema Migration gleich zu Beginn abzuräumen.
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