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Debatte Union und FlüchtlingeScheinbar liberal

Ulrich Schulte
Kommentar von Ulrich Schulte

Der CSU-Chef radikalisiert den Flüchtlingsdiskurs. Dagegen wirkt die Kanzlerin wie eine Liberale, die ein offenes Land verteidigt. Stimmt das?

Rechte Neigung: Wer verschärft das Asylrecht am meisten? Foto: dpa

D er bayerische Springteufel ist außer Rand und Band. Horst Seehofer radikalisiert den Streit mit der Kanzlerin, als säße er in der Opposition und nicht in der Regierung. Der CSU-Vorsitzende warnt vor dem Kollaps angesichts der vielen Flüchtlinge. Er will eine Obergrenze im Asylrecht. Er stellt Angela Merkel sogar ein Ultimatum. Bis Sonntag, donnert Seehofer, müsse sie einwilligen, den Zuzug zu begrenzen.

Gegenüber Seehofers kalter Rhetorik wirkt Merkel wie eine Linksliberale. Wir schaffen das. Das Asylrecht kennt keine Obergrenze. Wir können den Schalter nicht mit einem Mal umdrehen. Sätze sind das, die leuchten wie kleine Sonnen in dunkler Nacht. Merkel scheint die Instanz zu sein, die ein weltoffenes Deutschland gegen angeblich besorgte Bürger und die Seehofers dieser Welt verteidigt.

Die Frage ist: Stimmt das eigentlich?

Angela Merkels liberale Großtat ist ja, dass sie das Grundgesetz nicht so streng auslegt, wie sie könnte. Deutschland nimmt im Moment Hunderttausende verzweifelte Menschen aus Syrien, Afghanistan und den Balkanstaaten auf, obwohl es nicht müsste. Die Verfassung ließe viel mehr Restriktionen zu, aber Merkel weigert sich standhaft, sie zu nutzen.

Amputation eines Grundrechts

Früher stand in Artikel 16 des Grundgesetzes ein einfacher Satz. Er gibt die Lehre wieder, die die Verfasser aus zwölf Jahren Nazidiktatur und dem Holocaust zogen. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Diese hell strahlende, historisch begründete Selbstverpflichtung kannte so etwas Kleinliches wie Obergrenzen nicht.

Weinende Frauen, ­frierende Kinder hinter Zäunen. Merkel fände so ein Szenario desaströs

Aber CDU, CSU, FDP und SPD amputierten sie im Jahr 1993. Menschen, die aus sicheren Drittstaaten kommen, genießen seitdem kein Recht mehr auf Asyl – darunter fallen alle EU-Staaten. Menschen, die aus einem als sicher eingestuften Herkunftsstaat stammen, können schnell zurückgeschickt werden.

Die jungen Männer, die Frauen und Kinder aber, die im Moment in scheinbar endlosen Karawanen über nasse Äcker nach Deutschland ziehen, laufen auf ihrer Flucht zu Fuß durch mehrere EU-Staaten. Deutschland könnte sie deshalb sofort an Bayerns Grenzen abweisen. Offiziell müssen sie dort Asyl beantragen, wo sie den Boden der EU betreten, zum Beispiel in Griechenland.

Dass Merkel die Idee offener Grenzen eisern verteidigt, kann man nicht oft genug loben. Die Kanzlerin weiß, dass ein Zaun im bayerischen Voralpenland eine humanitäre Katastrophe bedeuten würde. Die Menschenmassen würden sich in Ländern wie Ungarn stauen, in denen Rechtsradikale auf geflüchtete Familien einprügeln. Dann ist da Merkels berühmter Pragmatismus. Sie weiß, dass sich ein solcher Ansturm Verzweifelter nicht ad hoc aufhalten lässt. Seehofer weiß das übrigens auch, auch wenn er das Gegenteil behauptet.

Verrückte Ideen aus Bayern

Eine Frage aber ist interessant. Ahnt Merkel, dass die Drittstaatenregelung an der Realität zerbrochen ist? Seit Jahren kritisieren Flüchtlingsorganisationen, dass ein Bollwerk Europa nicht funktioniert, das es den Ländern an den Außengrenzen aufbürdet, Flüchtlinge aufzunehmen, aber auch abzuschrecken. Deutschland und die EU-Institutionen haben Griechenland ein hartes Sparregime aufgezwungen. Warum sollte Athen den reichen EU-Ländern im Norden die Flüchtlinge begeistert vom Hals halten?

Wie verrückt Seehofers Rufe nach Abschottung sind, zeigt sich, wenn man sie ernst nimmt. Gesetzt den Fall, Deutschland machte die deutsch-österreichische Grenze mit Zäunen und Tausenden Bundespolizisten dicht. Das wäre der Tod des Schengener Abkommens, weil andere dem Beispiel folgen würden. EU-Nachbarn, die Deutschland dringend braucht, würden sich abwenden. Und die Flüchtenden fänden Schleichwege.

Vor allem aber würde die Aktion das Image vernichten, auf dem unser Reichtum gründet. Deutschland, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, gilt als verlässliche Demokratie mit starken, international tätigen Unternehmen. Aus diesem Staat kämen plötzlich schockierende Fernsehbilder. Ärmlich gekleidete Familien im Niemandsland vor einem Zaun. Weinende Frauen, frierende Kinder im Schnee. Dieses Szenario hält Merkel zu Recht für desaströs.

Aber auch wenn Merkel und Seehofer wie Antipoden wirken: Die Differenz zwischen ihnen ist kleiner, als es scheint. Die Kanzlerin kommt dem Scharfmacher längst entgegen. Sie ist eine Scheinriesin wie aus dem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Aus der Ferne wirkt sie liberal, modern und offen, eine Aufrechte in einem Meer der Mutlosigkeit. Je genauer man aber ihre Politik betrachtet, desto rückwärtsgewandter wirkt sie.

Wiederbelebung des Bollwerks

Merkel organisierte in Rekordzeit die härteste Asylrechtsverschärfung seit 1993, die Menschen bis zu sechs Monate lang in überfüllte Erstaufnahmeeinrichtungen pfercht – und SPD wie Grüne stimmten zu. Merkel willigte in Seehofers Idee von Transitzonen ein. Ihr Kanzleramtschef hat in einer Talkshow erklärt, wie das funktionieren könnte. Geflüchtete, die sich nicht in den Zonen melden, bekämen keine Unterkunft mehr, keine Kleidung, keine Verpflegung. Der deutsche Staat sagt also zu einer Romafamilie aus Bosnien-Herzegowina, die in ihrer Heimat diskriminiert wurde: Entweder ihr nehmt monatelang die Enge in einer Massenunterkunft auf euch, oder ihr müsst hungern.

Wie nahe Merkel inzwischen Seehofer ist, zeigt sich aber vor allem auf europäischer Ebene. Die Kanzlerin müht sich gerade, das gescheiterte Modell des Bollwerks Europa wiederzubeleben. Der türkische Präsident Erdoğan, der Kurden mit schweren Waffen beschießen lässt, ist wieder ein begehrter Verhandlungspartner. Merkel warb auf dem EU-Balkangipfel dafür, die Grenzen abzudichten. Auffanglager an der Balkanroute, mehr Grenzschützer in Slowenien, kein „Durchwinken“ der Menschen mehr in andere Länder: All das soll die Flüchtlingstrecks aus Deutschland fernhalten.

Seehofers Gebrüll erweckt also einen falschen Eindruck. Der CSU-Chef tut so, als zwinge er die Kanzlerin, Deutschland abzuschotten. Merkel aber ist längst dabei. Viele Unions-Wähler haben das nur noch nicht mitbekommen.

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Ulrich Schulte
Leiter Parlamentsbüro
Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.
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7 Kommentare

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  • Das eine Mauer funktioniert steht eigentlicht außer Frage. Beispiel: Spanien, 2014 gab es dort ganze 5.615 Asylanträge, und dass obwohl Spanien bloß 30 km von Afrika entfernt ist. Ja, es gibt illegal einreisende (ca 6.000), aber selbst beides zusammen ist was in Deutschland jeden Tag ankommt.

  • Der Artikel trifft den Nagel auf den Kopf.

     

    Während das Bild in der Öffentlichkeit dazu führt, dass viele Menschen der humanistisch durchdrungenen Kanzlerin zujubeln und gleichzeitig Seehofer als hartherzigen Machtpolitiker verdammen, sieht die Realität völlig anders aus: Zwischen die beiden passt schon seit geraumer Zeit nicht einmal das berühmte Blatt Papier. Und zwar nicht, weil sich Seehofer Merkels Positionen angenähert hat, sondern weil die Kanzlerin Schritt für Schritt die Forderungen des bayrischen Ministerpräsidenten erfüllt.

     

    Übrigens: Sie schreiben u.a.: „Viele Unions-Wähler haben das nur noch nicht mitbekommen.“ Viele andere aber auch noch nicht......

  • Ja, das stimmt. Aber das "neo" sollte man vor dem liberal auf keinen Fall vergessen. Alles, was Merkel macht, ist dem Ziel untergeordnet, Deutschland und Europa einzuebnen im Sinne einer immer marktkonformen Einheitssoße. Als sozialisierte Ostdeutsche fällt es Frau Merkel nicht schwer, Traditionen und Befindlichkeiten über Bord zu werfen und not falls eben auch die Liberale zu geben.

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    "...die Menschen bis zu sechs Monate lang in überfüllte Erstaufnahmeeinrichtungen pfercht..."

     

    Die Frage ist, wo gibt es Pläne für einen großangelegten Wohnungsbauplan. Die Erstellung der neue Sozialwohnungen ist praktisch zum Erliegen gekommen (https://www.tagesschau.de/multimedia/bilder/sozialwohnungen-103~_v-videowebl.jpg), deren Bestand beträgt wohl nur ein Bruchteil vom Niveau der 90er JAhre (https://www.tagesschau.de/inland/sozialer-wohnungsbau-101.html).

    Gleichzeitig steigt die durchschnittliche Quadratmeterzahl/Kopf haupsächlich, weil mehr gehobener Standard gebaut/saniert wird. Sollte jetzt auf extensives Bauen gesetzt werden, würde dies nur (v.a. um die Großstädte) zum Verschwinden vieler Freiräume und Verschänderung der Landschaft.

    • @10236 (Profil gelöscht):

      Die Argumentation finde ich widersprüchlich. Einerseits eine Beschwerde über zu wenig sozialen Wohnungsbau, andererseits Angst vor extensivem Bauen. Was nun?

      • @Arne Babenhauserheide:

        extensiv vs. intensiv

  • MDR: "Thüringen will auch in den kommenden Wintermonaten abgelehnte Asylbewerber abschieben. "Es wird keinen pauschalen Abschiebestopp geben", sagt Ministerpräsident Bodo Ramelow. "