Debatte Sexismus: Den Schweinehund niederringen
Skandal, Debatte, nächster Skandal. Und jetzt? Gleichberechtigung gibt es erst, wenn alle täglich daran mitarbeiten – auch die Männer.
W iedereinmal aus allen Wolken gefallen: Mehr als drei Jahre nach dem #aufschrei gegen Alltagssexismus macht eine junge Politikerin auf die Übergriffigkeiten aufmerksam, denen sie in der Berliner CDU ausgesetzt gewesen ist, und es werden wieder die alten Fragen gestellt: Sind wir wirklich eine sexistische Gesellschaft? Gibt es keine wichtigeren Themen, mit denen wir uns beschäftigen sollten? Benutzen Frauen solche Vorwürfe nicht viel zu oft, um sich einen Vorteil zu verschaffen?
Selbst außerhalb der überschaubaren feministischen Filterblase hätte die deutsche Mehrheitsgesellschaft längst schlüssige Antworten darauf finden können, nein: finden müssen. Stattdessen bleibt Aktivist*innen nur erneut festzustellen, dass Teilerfolge wie die Verschärfung des Sexualstrafrechts nicht das große Ganze erzwingen. Daran ist offenkundig nur wenigen gelegen, ebenso wie an der Aufarbeitung von systemimmanentem Sexismus.
Der zelebrierte Gestus ungläubiger Überraschung ist dabei keine Randerscheinung. Er ist Teil des Problems. Unsere Gesellschaft ist nicht nur deshalb zutiefst sexistisch, weil sie Menschen aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert, sondern weil sie sich beharrlich weigert, dies anzuerkennen und dazuzulernen. Weite Teile der Presse schreiben immer noch von „Sex-Attacke“, wenn sie über sexualisierte Gewalt berichten. Mögliche Opfer von Sexualverbrechen werden ausgiebig auf Schlampenhaftigkeit hin überprüft, so, als bestünde überhaupt die Möglichkeit, dass sie ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung verwirken könnten. Jeden Sommer wird mit unschöner Regelmäßigkeit über ein Hotpantsverbot für Schülerinnen diskutiert. Und Frauen haben die Fußball-EM der Männer zu dekorieren und nicht etwa im Fernsehen zu kommentieren.
Die eingangs gestellten Fragen sind längst beantwortet. Sie immer noch in einer Art repetitiver Selbstversicherung zu wiederholen ist an Scheinheiligkeit kaum zu überbieten. Frauen werden weiterhin mehrheitlich für Care-Tätigkeiten zuständig gemacht, dafür schlecht bezahlt und kaum wertgeschätzt. Aber sind wir eine sexistische Gesellschaft? Noch vor der Pubertät werden Mädchen aggressiv mit Körpernormierungen und Verhaltensansprüchen konfrontiert, die sie von den Sportplätzen und aus den Mathe-Leistungskursen vertreiben. Die ihr Selbstbewusstsein brechen, ihren Blick verengen und ihre Freiheiten beschneiden. Aber ist das wichtig?
schreibt als freier Autor und Journalist hauptsächlich zu den Themen Familie, Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit. Für den Verein Pinkstinks engagiert er sich gegen Sexismus in der Werbung. Er ist Vater von vier Kindern und Exilberliner.
Eine alleinerziehende Mutter, die sich politisch engagiert, erhebt ihre Stimme und benennt Sexismus. Als Folge davon wird sie angefeindet und ausgegrenzt. Ihr Sexualleben wird unter die Lupe genommen, ihre Motive werden in Zweifel gezogen. Ihrer Partei gilt sie als Nestbeschmutzerin. Der Vorfall wird für sehr lange Zeit wie ein Makel an ihr haften, und zwar unabhängig vom Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen. Aber tat sie es nicht, weil sie sich Aufmerksamkeit und Vergünstigungen erhofft hat?
Doppelte Zumutung
Sexismus funktioniert in diesem Zusammenhang als doppelte Zumutung. Zum einen als Diskriminierungspraxis, die Menschen auf ihr Geschlecht reduziert und entlang spezifischen Zuschreibungen an Männer und Frauen ein Machtungleichgewicht installiert. Zum anderen als reflexartige Rechtfertigungsstrategie: Das stimmt ja alles gar nicht. Und falls es im Einzelfall doch einmal stimmen sollte, ist es nie so schlimm wie behauptet. Als feministische Aktivistin werden Sie nicht nur für Ihre Meinung, Ihr Aussehen, ihr Geschlecht und schlussendlich für Ihre schiere Existenz angegangen – Sie müssen sich zudem auch noch fragen lassen, warum Sie dabei so rumbrüllen.
Am Ende wird diese Gesellschaft so weit kommen, dass sie Frauen mit allen Mitteln den Mund verbietet und ihnen dabei vorhält, nichts gegen die Verhältnisse zu sagen, die doch angeblich so ungerecht sind. Sie wird dabei zusehen, wie Frauen sich aus sozialen Netzwerken zurückziehen, weil man ihnen mit Vergewaltigung droht, und sie für ihren Kampf gegen sexistische Windmühlen als „Aufmerksamkeitshuren“ bezeichnen. Sie wird so tun, als seien juristische Falschbeschuldigungen ein spezifisches Problem des Sexualstrafrechts und kein generelles Phänomen, mit dem Rechtsprechung fertig zu werden hat. Sie wird von einer politischen Schwalbe wie Angela Merkel behaupten, dass sie einen gleichberechtigten Sommer macht. Weil mit Barack Obama bekanntermaßen die Polizeigewalt gegen Schwarze umgehend aufhörte und der unsägliche Rassismus für immer besiegt war.
Keine Altherrenwitze bitte
Um ernsthaften Forderungen zuvorzukommen oder sie zu übertönen, wird jemand einwerfen, dass man doch bitte die Altherrenwitze unterlassen möge. Ein Mann in Anzug wird „die Sexismusdebatte“ für beendet erklären. Er wird dabei ein bisschen so klingen, als hätte niemand die Absicht, eine Mauer zu errichten. Und am Horizont wird schon der nächste Skandal aufblitzen, mit dem überhaupt nicht zu rechnen war. Bei dem man wieder aus allen Wolken fällt, um eine neue Runde schon beantworteter Fragen einzuläuten.
Dieses Ende ist längst erreicht. Wir waren nie über Geschlechterklischees und die Lust an Diskriminierung erhaben. Sexismus ist kein Mantel, den wir bloß in einer großen, emanzipatorischen Geste ablegen müssen. Es ist auch keine Aufgabe, die Männer dankend ablehnen können, weil sie sie nicht betrifft. Der Unwille, Differenzierungsarbeit vorzunehmen und auf eigene Privilegien zu verzichten, betrifft ja gerade sie. Genau wie die Selbstgefälligkeit, sich einzureden, Mann habe alles Erreichte allein geschafft.
Sexismus ist unsere Sicht auf Menschen, Beziehungen und Macht. Er ist der innere Schweinehund, der einen stets begleitet und den man in zähen, ermüdenden Kämpfen aufs Neue niederringen muss. Zugegeben: Aus allen Wolken fallen ist zweifellos der dramatischere Auftritt. Aber das Bemühen darum, dem anderen jeden Tag auf Augenhöhe zu begegnen, entfaltet mehr Wucht.
So viel mehr, dass der Teufel Sexismus seinen alten „Es gibt mich gar nicht!“-Trick hoffentlich irgendwann nicht länger spielen können wird.
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