Debatte Nationalismus in Israel: Wem gehört der Staat Israel?
Netanjahu will Israel zum „Staat des jüdischen Volkes“ erklären. Das diskriminiert die Palästinenser. Und er verliert die jüdische Diaspora.
D ie gegenwärtige Regierungskrise des Staates Israel ist weit mehr als Ausdruck eines unpraktikablen parlamentarischen Systems, das kleinsten Parteien den Einzug in das Parlament, die Knesset, erlaubt und durch Zersplitterung stabile Regierungsmehrheiten verhindert.
Vielmehr ist anzunehmen, dass sich diese Krise zur größten Krise des jüdischen Volkes seit der Katastrophe des von Deutschen begangenen nationalsozialistischen Massenmordes entwickeln wird. Des jüdischen Volkes? Was sind überhaupt Juden, was das Judentum? Dazu werden heute vier Vorschläge diskutiert.
Erstens das Judentum als Religion, als Konfession, als Glaubensgemeinschaft. Diese Definition leidet daran, dass keineswegs der größte Teil der weltweit etwa zwölf Millionen Juden intensiv gläubig ist, Thora lernt, regelmäßig Gottesdienste besucht und sich strikt an Festtage und häusliche Rituale hält.
Zweitens das Judentum als ethnische Nation im Sinne des Volksbegriffs des späten achtzehnten Jahrhunderts, als Sprach- und Herkunftsgemeinschaft.
Der Staat des jüdischen Volkes
Drittens als eine „Kultur“, die – wie erst kürzlich die israelischen Autoren Amos Oz und Fania Oz-Salzberger in ihrem Buch „Juden und Worte“ nachweisen wollten – eine einzigartige, Jahrtausende alte Buch-und Schrifttradition aufweist.
Quote, Gewerkschaft, 38-Stunden-Woche. All so was gibt es im Silicon Valley nicht. Kann das trotzdem die Zukunft sein? Die Reportage von Peter Unfried lesen Sie in der taz.am wochenende vom 6./7. Dezember 2014. Außerdem: Wie Gericht und Staatsanwaltschaft versuchen, ein Polizeiopfer in die Psychiatrie einzuweisen. Und: Wetten, dass Sie „Wetten, dass..?“ vermissen werden? Oliver Kalkofe und Smudo antworten. Am Kiosk, //taz.de/%21p4350%3E%3C/a%3E:eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Viertens wird das Judentum als „Schicksalsgemeinschaft“ verstanden: als eine Großgruppe von Menschen, die ohne scharfe Trennlinien durch teils geteilte Traditionen, Anfeindungen der Umwelt sowie ein vages Gemeinschaftsbewusstsein zusammengehalten wird.
Die künftige Krise, die von Benjamin Netanjahu und seinen Koalitionspartnern ausgelöst wurde, resultiert aus Diskussionen um ein derzeit noch nicht verabschiedetes Gesetz, wonach der Staat Israel zum „Staat des jüdischen Volkes“ erklärt werden soll.
Ziel dieses Gesetzes ist es unter anderem, Israels arabischen Nachbarn, vor allem den Palästinensern, zu verdeutlichen, dass eine friedensstiftende Anerkennung Israels nur dann vorliegt, wenn der Staat als „jüdischer Staat“ und nicht als ein in noch zu verhandelnden Grenzen existierender Staat anerkannt wird.
Bürger zweiter Klasse
Radikalere Varianten des Gesetzesentwurfs, von Netanjahus noch weiter rechts stehenden Koalitionspartnern eingebracht, zielen zudem darauf, Arabisch als bisher zweite Amtssprache aufzuheben und so die nichtjüdischen Bürger zu Bürgern zweiter Klasse zu degradieren.
Die jetzt von Netanjahu entlassenen ehemaligen Finanzminister Jair Lapid und Justizministerin Zipi Livni finden, dass dieses Gesetz im besten Fall zum Ausdruck bringen kann, was ohnehin schon in der als Verfassung geltenden israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948 steht.
Dort heißt es: Der Staat Israel „wird auf den Grundlagen der Freiheit, Gleichheit und des Friedens, im Lichte der Weissagungen der Propheten Israels gegründet sein; er wird volle soziale und politische Gleichberechtigung aller Bürger ohne Unterschied der Religion, der Rasse und des Geschlechts gewähren; er wird die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, der Sprache, der Erziehung und Kultur garantieren; er wird die Heiligen Stätten aller Religionen sicherstellen und den Grundsätzen der Verfassung der Vereinten Nationen treu sein.“
Tatsächlich: Der Staat Israel verstand sich dem Geist dieser Unabhängigkeitserklärung nach als jüdischer und demokratischer Staat; jüdisch vor allem deshalb, weil das 1950 verabschiedete Rückkehrgesetz jeden Juden auf der Welt berechtigt, dorthin einzuwandern; im Unterschied zu den im Kriege von 1948 von israelischen Milizen und Armeen vertriebenen etwa 700.000 Palästinensern, denen ein Rückkehrrecht versagt wird.
In ihrem einen und einzigen Staat
Ein erster Gesetzesentwurf wurde bereits im August 2011 von Avi Dichter, einem Mitglied der „Kadima“-Partei vorgelegt. Im November dieses Jahres publizierte Netanjahus Büro dann die von ihm bevorzugte Version des Gesetzes: „The State of Israel ist the national State of The Jewish People. It has equal individual rights for every citizen and we insist on this. But only the Jewish People have national rights: A flag, an anthem, the right of every Jew to immigrate to the country and other national symbols. These are granted only to our people in its one and only state.“
Tatsächlich gab und gibt es eine israelische Staatsangehörigkeit, aber keine israelische Nationalität und damit auch keinen israelischen Souverän, kein israelisches Staatsvolk. So wies das höchste israelische Gericht im August des Jahres 2013 einen Antrag von einundzwanzig israelischen Staatsbürgern, in ihren Personalpapieren unter der Rubrik „Nationalität“ anstatt „jüdisch“ „israelisch“ eintragen zu lassen, mit dem Hinweis auf seine Unzuständigkeit ab.
Seither gilt, dass israelische Staatsangehörige entweder eine „jüdische“, eine „arabische“ oder „drusische“ Nationalität und damit unterschiedliche kollektive Rechte haben.
Das geplante neue Gesetz – auch in der relativ weichen Fassung Netanjahus – wird damit endgültig festschreiben, was der an der Ben-Gurion-Universität lehrende Geograf Oren Yiftachel schon seit Jahren behauptet: dass nämlich der Staat Israel keine Demokratie, sondern eine „Ethnokratie“ ist.
Je nach Rassismus-Definition
In Ethnokratien verbirgt sich – so Yiftachel – hinter einer demokratischen Fassade die systematische Vorherrschaft einer ethnischen Gruppe; weitere Beispiele neben Israel sind Estland, Lettland, Serbien, Kroatien, Malaysia und Sri Lanka. Zu denken wäre heute auch an das sogar vom republikanischen Senator John Cain als „neofaschistisch“ bezeichnete Ungarn.
Sind „Ethnokratien“ somit rassistisch? Gewiss nicht, wenn man unter „Rassismus“ den exterminatorischen Biologismus der Nationalsozialisten versteht, wohl aber, wenn man die am 7. März 1966 von den Vereinten Nationen verabschiedete Resolution gegen „racial discrimination“ zugrunde legt.
In dieser Konvention bedeutet der Ausdruck „rassische Diskriminierung“ jede sich „auf Rasse, Hautfarbe, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft gründende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, die Anerkennung, den Genuss oder die Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in gleichberechtigter Weise im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens zu vereiteln oder zu beeinträchtigen.“
Die Werte des Judentums
Der Staat Israel hat diese Konvention 1966 unterschrieben und dreizehn Jahre später, im Januar 1979, in der Knesset ratifiziert. Abgesehen davon, dass der Staat Israel mit der möglichen Verabschiedung des neuen Gesetzes seine Unterschrift unter der UN-Konvention zurückziehen müsste, werden aber auch die Beziehungen des selbsternannten jüdischen Staates zur weltweiten jüdischen Diaspora massiv belastet.
Schon heute protestieren maßgebliche Teile der israelischen Politik, einschließlich des Staatspräsidenten Ruben Rivlin, gegen die geplante Gesetzgebung, schon heute wenden sich wesentliche Verbände des US-amerikanischen Judentums gegen den Vorschlag. Abzusehen ist daher, dass jene Juden der Diaspora, die die prophetischen, die universalistischen Werte des Judentums über nackten Partikularismus und blinden Selbstbehauptungswillen stellen, sich von Israel und dem Zionismus abwenden werden.
Die damit aufziehende Krise, die künftige Spaltung des Judentums, zeigt sich vor allem in den USA. Dabei geht es ausnahmsweise nicht um die „außenpolitische“ Frage des israelischen Verhältnisses zu den Palästinensern, sondern um die Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora.
Kritik erzeugt ungewohnte Allianzen
So bahnt sich in der Frage des geplanten Gesetzes eine Allianz zwischen den ansonsten verfeindeten ultraorthodoxen Antizionisten und dem Reformjudentum an. Die renommierte Holocaust-Forscherin Deborah Lipstadt, eine streitbare Unterstützerin Israels, warnte vor wenigen Tagen im Wall Street Journal davor, dass das geplante Gesetz Israels Feinden ermöglichen werde, respektabel aufzutreten.
Auch der Vorsitzende der bisher die Regierung Netanjahu bedingungslos unterstützenden Organisation „Anti Diffamation League“ Abraham Foxman distanziert sich. Vor allem aber protestieren rabbinische Vereinigungen sowie jüdisch-theologische Hochschulen. Schon am 30. November riefen die Vorsitzenden der Vereinigungen des konservativen Judentums dazu auf, von einem Gesetz Abstand zu nehmen, das Israels sozialen Zusammenhalt sowie seine kostbarsten ethischen Werte schwächen werde.
Historisch Interessierte werden an das Römische Reich denken, an den vom Historiker Flavius Josephus geschilderten „Jüdischen Krieg“, der schließlich – der selbstmörderischen Politik der Zeloten wegen – in die Zerstörung des Tempels und das Ende jeder jüdischer Staatlichkeit mündete.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“