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Debatte Leben im KapitalismusFriede, Freiheit, Pustekuchen

Kommentar von Georg Seeßlen

Höher, weiter, schneller – besser? Die Versprechen des Kapitalismus haben sich ins Negative verkehrt. Es wächst nur die Sehnsucht nach Gemeinschaft.

Ein Leben im ständigen Wettbewerb macht selbst den Gewinner nicht glücklich Foto: dpa

D en Menschen in der Mitte der westlichen Industrienationen wurden in den sechziger Jahren zwei große Versprechungen gemacht, die aus einer untrennbaren Verknüpfung von Demokratie und Marktwirtschaft entwickelt wurden. Das erste Versprechen betraf die ökonomische Situation.

Es besagte, dass sich ein allmählicher, aber kontinuierlicher und mehr oder weniger sicherer Aufstieg für alle erzielen ließe. Konkret sollte es bedeuten, dass auch Arbeiter in den Genuss der Segnungen kommen würden, die vordem der Mittelschicht vorbehalten waren, vom Einfamilienhaus bis zur Ferienreise, während diese Mittelschicht die eine oder andere Scheibe vom Luxus abbekommen sollte, den die Besserverdiener ihr vorgelebt hatten.

Das Versprechen einigte auch die Generationen, denn es umfasste die Aussicht, dass die jeweils nächste Generation es besser haben sollte als die vorherige. Des Weiteren umfasste dieses Versprechen auch Aufstiegsmöglichkeiten für die vordem Benachteiligten, die Frauen (immer noch), die Migranten, sexuelle Minderheiten, anders Begabte. So sähe eine Gemeinschaft des vernünftigen Wohlstands aus.

Ein regenbogenbuntes Leben

Das zweite große Versprechen dieser Zeit war: Freiheit. Das meinte sowohl eine Fortentwicklung der demokratischen Institutionen und Diskurse („Mehr Demokratie wagen!“ hieß ein Slogan von Willy Brandt, bevor man ihn aus dem Amt intrigierte) als auch eine liberale Gesellschaft, in der jeder nach seiner Fasson glücklich werden könnte.

Toleranz wäre das oberste Gebot des Zusammenlebens, und niemand müsste fürchten, wegen seiner Religion, seiner Überzeugung, seines Geschmacks angefeindet oder ausgeschlossen zu werden. Ein regenbogenbuntes Leben ward versprochen, in dem jede und jeder in seiner Erzählung und seinem Style leben konnte und in dem Konflikte durch saubere, freundliche politische und kulturelle Diskurse beigelegt werden würden. So sähe eine Gemeinschaft der vernünftigen Freiheit aus.

Ein Leben im permanenten Wettbewerb macht nicht glücklich, nicht einmal die Gewinner

Wer indes an diese beiden Großversprechen des demokratischen Kapitalismus nicht glauben wollte, konnte nur als Spielverderber gelten, als jemand, der aus dem einen oder anderen Grund nicht Mitglied dieser glücklichen Doppelgemeinschaft sein wollte. Der Mehrheit aber musste, mit einigen Abstrichen hier und da, diese Zukunft durchaus erfreulich erscheinen (höchstens ein bisschen langweilig hätte sie werden können); man konnte sich ihr mit einem gewissen Grundvertrauen überlassen.

Aber, oh weh, diese Zukunft von Wohlstand in Frieden und Freiheit (wie sie die Wahlplakate allen Ernstes zu grinsenden Politikern und blühenden Landschaften verkündeten) trat niemals ein, denn das doppelte Versprechen war an mehrere Voraussetzungen gebunden, die man damals gern ein wenig vernachlässigte.

Das Doppelversprechen erwies sich als Falle

Die erste war ein kontinuierliches und einigermaßen gleichmäßig verteiltes wirtschaftliches Wachstum, das man, nach dem Bericht des Club of Rome, hoffte, auch ein wenig ökologisch einhegen zu können. Die zweite war die Abwesenheit ernster Bedrohungen von innen und von außen. Gewiss fehlte es nicht an Zeichen, dass dieses doppelte Versprechen des demokratischen Kapitalismus entweder nicht einzuhalten war oder aber nur auf Kosten von anderen. Einige, sehr schlecht gelaunte Menschen begannen von „Betrug“ zu sprechen.

In Wirklichkeit, und das bemerkte man erst ein, zwei Generationen später, waren diese Versprechungen des demokratischen Kapitalismus auf moralische und vernünftige Weise gar nicht einzulösen. Schlimmer noch: Das Doppelversprechen erwies sich als Falle.

Die Hoffnung auf Freiheit in einer toleranten, liberalen und aufgeklärten Zivilgesellschaft verwandelte sich in die negative Freiheit: Die Menschen wurden alleingelassen – als Arbeitnehmer auf einem Arbeitsmarkt, der sich nach Angebot und Nachfrage schließlich am Recht des Stärkeren ausrichtete, als Konsument, wo er gefälligst als „mündiger Verbraucher“ für die medizinische, ökologische, soziale und ästhetische Verträglichkeit seiner Shopping-Beute selbst verantwortlich sein sollte, als Architekt einer Familienbiografie, der seinem Nachwuchs nur noch mit Gewalt und privater Kraft zu Ausbildung und Chancen verhelfen konnte, als Bewohner von Städten zwischen Immobilienhaien und Getto-Gangstern, als „Provinzler“, die sich von den urbanen Kulturen und „Eliten“ abgehängt wähnten – und so weiter.

Was von Wohlstand und Freiheit blieb, war der Wettbewerb

Die Freiheit der Selbstbestimmung und der Toleranz hatte sich verwandelt in das „Alles ist erlaubt“ (wenn es einer anbietet und der andere es bezahlen kann), und auch die Hoffnung auf Aufstieg oder wenigstens Erhalt des Erreichten war an diese Erlaubnis gebunden: Vielleicht nicht alles ist erlaubt, aber hey, dass es irgendwer mit ehrlicher Arbeit zu etwas bringt, glaubt ja kein Kindergartenkind mehr.

Unglücklicherweise gab es niemanden, mit dem man über die neue Situation nach dem Bruch der beiden Versprechen hätte reden können. Denn die einen, bald würde man sie „das linksliberale Establishment“ nennen und mitsamt seiner „Lügenpresse“ aus ganzem Herzen hassen, schlossen einfach die Augen und machten es sich selbst im Erreichten bequem, und die anderen feuerten zu immer mehr Selbstüberwachung, Leistung, Kontrolle und Erfolgswille an, zum Totarbeiten oder zum Verschwinden.

Was von Wohlstand und Freiheit, von den großen Versprechungen des demokratischen Kapitalismus blieb, war der Wettbewerb. Im Wettbewerb aller gegen alle spukte die verlorene Freiheit und lockt der Wohlstand für wenige. Doch bald war auch dies klar: Ein Leben im permanenten Wettbewerb macht nicht glücklich, nicht einmal die Gewinner. Es macht vielmehr müde, dumm und aggressiv. Und es entwickelt sich eine große Sehnsucht nach einer Gemeinschaft.

Nicht eine mit dem Nächsten, denn der ist ja Wettbewerber, und nicht eine mit allen Menschen auf der Welt, denn was da kommt, sind immer noch mehr Wettbewerber um die Reste von Freiheit und Wohlstand. Nein, es muss eine abstrakte Gemeinschaft sein – in der all das Müde, Dumme und Aggressive aufgehoben ist, das sich aus den gebrochenen Versprechungen ergab.

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10 Kommentare

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  • Nach dem Krieg haben die Amis ihr System in Westdeutschland installiert, als Verlierer haben wir mitgespielt, wurden noch mal neu erzogen sozusagen.

    Die Erziehung ist irgendwann mal zu Ende und die Kinder gehen ihre eigenen Wege. Deutschland tappt immer noch mehr oder weniger blind den USA hinterher wie das kleine Kind der Mutter.

    Auf Brandts "mehr Demokratie wagen" wollte sich doch nie eine Mehrheit einlassen, die hat es immer eher mit Adenauers "keine Experimente!" gehalten.

  • Es ist auf jeden Fall möglich

    die Reichtümer zu sozialisieren,

    die Beziehungen zu egalisieren,

    und grenzüberschreitend zu kooperieren.

     

    Anarchosyndikalisten prägten auch die Vorstellung:

    - syndikalisieren (den Betrieb übernehmen

    - egalisieren (alle Berufe miteinander in einem Syndikat, als Keimzelle der neuen Gesellschaft

    - kooperieren (zwischen den selbstverwalteten befreiten Betrieben).

     

    als Graswurzelprozess.

    Hauptsache die Leute fühlen sich zuständig und kooperieren überhaupt.

    Und konzentrieren wir uns auf das Wesentliche.

     

    Tea Party is not any sort of Gemeinschaft.

  • Immer diese Abgesänge auf das System. Geht es mal ein wenig konstruktiver?

     

    Auf der einen Seite wollte vor allem auch die Linke immer doch Globalisierung und Freihandel - die ist eingetreten, zwar erst mal nur so asymmetrisch, wie sie sein kann. D.h. hohe Mobilität von Kapital (Geld) und geringere von Arbeitskraft.

     

    Zweitens gibt es so etwas wie die technologische Entwicklung, vor allem im IKT Bereich, der die Welt seit den 80ern auf den Kopf gestellt hat. Trotzdem wird hier auf die Träume der 60er (!!) referenziert, als ob nie etwas passiert wäre.

     

    Ach ja, ganz zu schweigen von den gesellschaftspolitischen Verwerfungen in der Welt - auch seit den 60ern - die übrigens so wie die 90er irgendwie schon als "goldene Zeiten" in die Analen eingehen werden.

     

    Und um Freiheit muss man bekanntlich immer wieder kämpfen. Jetzt rumheulen geht einfach nicht.

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    Trotz der sinkenden Wachstumsraten und Globalisierungs-/Technologisierungseffekte hätte der Kuchen locker für alle gereicht, aber wie Piketty schon trefflich beobachtet hatte - das Sahnehäubchen der Gesellschaft will halt mehr, dann muss jemand was abgeben.

     

    Witzigerweise spielen dabei linke (?) und liberale Medien eine unrühmliche Rolle. Manchmal wird das Thema einfach stiefmütterlich behandelt, manchmal wird volle Breitseite neoliberal geschossen. Wie z.B. "The Guardian", der obszön hohe Verdienste der Fussballspieler als "funktionierende soziale Mobilität" verteidigt um damit (wie gewohnt) dem Jeremy Corbyn eins auszuwischen: https://www.theguardian.com/sport/blog/2017/jan/18/footballers-wages-excess-patronising-lazy

    • @10236 (Profil gelöscht):

      ... oder wie Leute, die sich links geben und einen neoliberalen populistischen Präsidenten für das Non-Plus-Ultra halten.

      • 1G
        10236 (Profil gelöscht)
        @Artur Möff:

        "einen neoliberalen populistischen Präsidenten für das Non-Plus-Ultra halten."

         

        Non-Plus-Ultra? Nein, aber ich kenne wohl die Alternative bisschen besser als Sie.

  • Die Analyse beginnt gut, endet aber im Irrtum. Es wäre schön, wenn es Wettbewerb gäbe, doch die Lehre der Betriebswirtschaft sagt, man müsse entweder Marktführer werden oder sich eine Nische suchen. In beiden Fällen entzieht man sich der direkten Konkurrenz.

     

    Das gilt auch für Schule und Beruf. Das gesamte Bildungswesen ist darauf ausgelegt, den Reichen die besseren Chancen zu garantieren, was internationale Studien immer wieder bestätigen.

     

    Was bleibt ist vielmehr ein Gefühl der Hilflosigkeit. Wo es früher unterschiedliche Urteile gab, hat sich das Bundesgericht auf die Seite der Bausparkassen gestellt. Sämtliche Urteile von Politik und Verwaltung richten sich gegen den einzelnen, geschützt wird der Investor, geschützt wird Kapital.

  • Also von einer realen, besseren Gemeinschaft kann man schon noch träumen. Man muss die anderen eben auch überzeugen.

  • Schauen Sie sich mal "Das weiße Band" an. Oder Chaplins "Moderne Zeiten".

    Oder einen beliebigen Film mit Arbeits- oder Sozialbezug aus der Zeit "vor Willy Brand". Nein, Hans Erhard auf Italienfahrt gehört nicht hierhin.

     

    Verklärt nach hinten schauen ist nicht mein Ding. Schon gar nicht hier in DE; DE vorne und andere Länder wegen unserer Lebensweise abgehängt... meinetwegen; ist aber nicht en vogue.

    • @Tom Farmer:

      Aber verklärt nach vorne schauen, nach dem Motto "Jetzt wo es mir gut geht wird sich schon nix mehr ändern!", ist auch nicht so mein Ding. Das liefe ja auf Stagnation hinaus, damit wäre deine heile Welt, die ja auf immerwährendem Wachstum fußt, auch perdu.