Debatte Israels Politik und der Westen: Mit Sicherheit falsch
Die Rechte der Palästinenser werden durch Netanjahus Politik missachtet. Das ist das größte Sicherheitsrisiko. Widerspruch aus dem Westen fehlt.
B undeskanzlerin Merkel hat vor der Knesset die Sicherheit Israels zum Teil deutscher Staatsräson erklärt. Das war richtig. Leider definierte sie nicht, was darunter zu verstehen sei. Der Begriff „Sicherheit“ ist in Israel ein häufig missbrauchtes Wort. Nationalreligiöse Ideologen treiben die Bevölkerung des Landes, die zutiefst geprägt ist vom Trauma des Holocausts und der jüngeren blutigen Geschichte Israels, damit vor sich her, um ihre expansionistischen Ziele durchzusetzen und die Besetzung der palästinensischen Gebiete dauerhaft aufrechtzuerhalten.
Auch in den internationalen Beziehungen wird „Sicherheit“ von der regierenden israelischen Rechten eingesetzt, um ihre Politik vor Kritik zu schützen. Israel verlässt sich auf das amerikanische Veto im UN-Sicherheitsrat und auf den großen deutschen Einfluss in der EU. Die Regierung Netanjahu sah sich auch durch das lange Schweigen der Bundesregierung zu den Opferzahlen in Gaza mit einer Carte blanche für die nun vier Wochen andauernde, massive Bombardierung ausgestattet.
Das von den USA und Deutschland unterstützte Spiel der israelischen Rechten mit dem Begriff Sicherheit verhindert den Blick auf das Wohlergehen, die Rechte und, ja, die Sicherheitsinteressen der Palästinenser. Doch deren Verwirklichung wird letztlich entscheidend für die Sicherheit Israels sein.
Nicht weil die Palästinenser zu einem Großteil antisemitisch eingestellt wären oder dem Staat Israel das Existenzrecht absprächen (Umfragen belegen, dass eine Mehrheit für eine friedliche Zweistaatenlösung ist), sondern weil sie seit fast 50 Jahren unter israelischer Besatzung leben und zunehmend die Hoffnung auf die Realisierung ihrer Rechte verlieren.
Manche Städte und Dörfer im Westjordanland sind inzwischen im Namen der Sicherheit komplett von der Trennmauer umgeben. Zehn Prozent des Westjordanlands wurden durch die vom Internationalen Gerichtshof als illegal bewertete Mauer dem Staat Israel de facto einverleibt. Beduinen werden im Namen der Sicherheit von ihrem Land vertrieben. Häuser, Ställe, Wasserzisternen, Spielplätze werden abgerissen. Kliniken, Schulen, sogar ganze Dörfer sind vom Abriss bedroht.
Für die Sicherheit von 800 Siedlern werden 200.000 Palästinenser in Hebron daran gehindert, sich in ihrer Stadt frei zu bewegen. Für die Sicherheit werden große Landflächen im Westjordanland zu Schutzzonen für Siedlungen erklärt und sind dann für die palästinensischen Landbesitzer tabu. Für die Sicherheit dürfen zahlreiche Straßen im Westjordanland nur von Israelis genutzt werden, wurden die Menschen in Gaza zeitweise daran gehindert, Bücher, Textilien, Nudeln und Milchprodukte zu importieren.
Gewalt im Kontext der Blockade
Die Eskalation der Proteste in Ostjerusalem und im Westjordanland zeigt, dass Israel es nicht nur mit einem „Hamas-Problem“ zu tun hat. Der Einsatz von Gewalt muss im Kontext der kontinuierlichen Blockade des Gazastreifens und der Besatzung des Westjordanlands und Ostjerusalems gesehen werden.
Der wachsenden palästinensischen Bevölkerung steht immer weniger Land zur Verfügung. Schwindende Ressourcen, fehlende Bewegungsfreiheit, wachsende Armut und fehlende Perspektive sowie die Verdrängung in immer kleinere, dicht besiedelte urbane Gebiete könnten dazu führen, dass die von der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrollierten Orte im Westjordanland in der gleichen Sackgasse enden wie Gaza.
Der Gazastreifen ist seit 2006 fast komplett abgeriegelt. Trotzdem gelingt es der Hamas und anderen Gruppierungen in Gaza Raketen auf Israel abzuschießen. Auch die neuesten Bombardierungen werden das nicht ändern. Solange die Menschen keine Perspektive haben, wird die Idee, selbstgebaute Raketen abzuschießen oder Tunnel zu graben, weiter Anhänger finden. Der ehemalige Leiter des israelischen Inlandsgeheimdienstes Yuval Diskin warnt: „[Die Palästinenser] werden nie den Status quo der israelischen Besatzung akzeptieren. Wenn Menschen die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Situation verlieren, werden sie radikalisiert.“
Trotz der stetig größer werdenden Gefahr für den Staat Israel treibt die von der Rechten dominierte Netanjahu-Regierung das Siedlungsprojekt mit aller Gewalt voran. Mitte Juli sagte der Premier offen, dass es nie einen Staat Palästina mit voller Souveränität geben darf. Widerspruch aus Berlin oder Washington war nicht zu hören.
Zu Recht reagieren deutsche Politiker zutiefst erschrocken auf antisemitische Äußerungen in Deutschland. Diese Exzesse dürfen in Deutschland keinen Platz finden. Sie sind im Übrigen auch schädlich für die Palästinenser (ebenso wie antisemitische Äußerungen von Hamas-Vertretern und die starrköpfige Beibehaltung der widerlichen Hamas-Charta von 1988). Denn solange der antisemitische Hass die Schlagzeilen füllt, wird in Deutschland nicht bekannt, welche gefährliche Entwicklung der gesellschaftliche Diskurs in Israel inzwischen genommen hat.
Israelische O-Töne
In Israel wurde verboten, im Radio die Namen der durch israelische Bombenangriffe getöteten Kinder in Gaza zu nennen. Israelischen Palästinensern, aber auch jüdischen Kritikern des Kriegs schlägt ein massiver Hass entgegen. „Tod den Arabern, Tod den Linken“, skandieren Demonstranten in Tel Aviv, in Jerusalem, in Haifa. Fußballfans fordern „weitere 1.000 Tote“ in Gaza.
Der stellvertretende Parlamentsvorsitzende ruft offen zur ethnischen Säuberung Gazas auf. Eine Parlamentarierin der Regierungspartei HaBajit haJehudi fordert, palästinensische Mütter zu töten, damit sie keine weiteren „Schlangen gebären“. Man sei schließlich im „Krieg gegen das palästinensische Volk“. Der Industrieminister meint: „Ich habe in meinem Leben schon viele Araber getötet – und das ist kein Problem.“ Der Außenminister fordert jüdische Israelis auf, „arabische Läden“ zu boykottieren.
Israel muss ein „normaler“ Staat werden. Seit 2002 liegt die Arab Peace Initiative auf dem Tisch. Sie ist ein Angebot aller arabischen Staaten an Israel, Frieden zu schließen. Bis heute gibt es keine offizielle Reaktion der israelischen Regierung auf dieses Friedensangebot. Stattdessen verweist Israel auf die Gefahr des regionalen Terrorismus.
In der Tat wird Israel in der Region regelmäßig zur Ablenkung von internen Problemen benutzt. Doch auch beim Nahostkonflikt gilt: Wer sagt, es gebe keine Lösung, hat ein Interesse an der Beibehaltung des Problems. Vertreter der israelischen Siedler wie Dani Dajan sprechen von der Notwendigkeit einer „Nichtlösung“. Diese Nichtlösung einer ewig „temporären“ Besatzung ist mit einem demokratischen Staat unvereinbar.
Als undemokratischer Staat sowie als ewiger Besatzer würde Israel im Zuge einer bereits wachsenden internationalen Boykottbewegung immer mehr isoliert und von der palästinensischen Bevölkerung im eigenen Land bekämpft. Eine solche Zukunft darf Israel niemand wünschen. Besonders kein deutscher Politiker.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen