Debatte Deutsche Einheit: Der Preis der Freiheit
Dumme Ossis wählen die AfD? Vorsicht! Haben sie Hass und Verachtung für Schwächere nicht im Westen gelernt? Gedanken zum 9. November.
Als ich am 4. November 1989 an der Seite meiner Eltern auf den Straßen Ostberlins demonstrierte, ging es um Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Reisefreiheit. Viele der oppositionellen Freunde meiner Eltern konnten nicht die gewünschte Profession ausüben. Die Karriere meines Vaters als Biochemiker endete Anfang der 1980er Jahre, als er den Wehrdienst verweigerte. In der DDR hätte ich als Nicht-Pionierin kaum Abitur machen können. Aber das soziale System war doch so stark, dass damals keiner Angst vor dem Abgrund haben musste. Es gab immer Arbeit, Wohnungen, Zugang zum Gesundheitssystem.
Heute hören wir allenthalben das neoliberale Märchen von der großen Freiheit, nach der sich alle gleich entfalten könnten. Und das, obwohl Chancengleichheit und soziale Absicherungen ständig beschnitten werden – wie beispielsweise Harz IV als Rettungsanker für unterbezahlte Arbeitnehmer.
Wenn sich eine Bewegung wie Pegida oder die Partei AfD nun gegen die Schwachen, die Migranten und Flüchtlinge wenden, ist die Empörung groß. Auch wenn die AfD oder Pegida auch in den alten Bundesländern Fuss fassen, ist ein Großteil ihrer Unterstützer ostdeutsch. Ihnen wird Rassismus und Primitivität vorgeworfen. Vielleicht sollten wir Andersdenkende vorsichtiger mit unserem Urteil sein und uns fragen: Woher kommen all die Vorwürfe des Schmarotzertums, der Faulheit, die die AfD den Migranten vorwirft?
Während der 90er Jahre waren die Medien voller indirekter oder direkter Verweise auf die Ostdeutschen, die Ossis, die auf Kosten der Wessis lebten. Gleichzeitig wurde das Land, wurden ganze Fabriken und Besitzgüter treuhänderisch an westliche Interessenten verhökert. Arbeitsplätze gingen verloren, Ausbildung wurde entwertet und den Bewohnern des ehemaligen „Stasilands“ wurden sogar politische Kompetenzen abgesprochen. Ossis wurden in den Medien häufig als faule Menschen gezeichnet, die den westdeutschen Staat aussaugten. War diese Sprache etwa nicht rassistisch?
Eine schizophrene Gesellschaft
Heute noch sagen Politiker wie Finanzminister Schäuble oder EU-Parlamentspräsident Martin Schulz beispielsweise über die Griechen, sie seien faul und hätten keine Aufhebung ihrer Schulden verdient. Die Griechen, die ihr Land nur anders reformieren wollten, als von der EU vorgegeben, wurden von den Medien, vor allem in Deutschland, als EU-Schmarotzer dargestellt.
Aber wenn die AfD und ihre Unterstützer dieselben Worte in den Mund nehmen, um über Migranten zu reden, folgt mediale Empörung – als hätte man so etwas noch nie gehört.
Der Hass der AfD auf die Menschen aus Syrien, die nun bei uns um Schutz bitten, entspringt einer tiefen Schizophrenie unserer Gesellschaft, die in den letzten 30 Jahren seit dem Mauerfall ihre sozialen Werte der Gleichheit und Gleichberechtigung sukzessive aufgegeben hat. Befristete Arbeitsverträge, Teilzeitjobs, Urlaubsgeldbeschneidungen, Krankenkassenbeiträge, die immer mehr steigen, betreffen eine Mittelschicht, die sich ihre Not nur noch nicht eingestehen mag. Die Angst wächst. Harz-IV-Empfänger werden mit immer härteren Auflagen und neuen Bußgeldstrafen belegt. Und wieder heißt es: Harz-IV-Empfänger seien faul, Schmarotzer der Gesellschaft. An dieser Dämonisierung der Schwachen ist fast jedes Pressemedium beteiligt.
Umgekehrt wurden die Reichen jedoch nicht gleichermaßen beschnitten, sondern mit der Absenkung der Erbschaftssteuer und anderen politischen Maßnahmen gestärkt. Die Lücke zwischen Arm und Reich ist in den letzten Jahren rapide gewachsen, die Reichen sind 2016 nach dem Armutsbericht der Bundesregierung und einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung reicher denn je. Wen wundert es, wenn Teile der Gesellschaft nicht mehr fair sein können gegenüber anderen?
Die AfD ist Symptom, nicht Ursache
Doch ausgerechnet die linken Parteien und Medien verhöhnen die AfD am meisten. Diejenigen, die sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter nach rechts bewegten. Die Lockerungen für Reiche, die Einführung von Harz IV gab es unter der Regierung einer angeblich sozialen Partei, der SPD. Ähnlich wie Obama die Republikaner beschuldigt, Trump kreiert zu haben, so schieben die Linken in Deutschland der CDU die Schuld an der AFD zu.
Aber die AfD ist nur das Symptom, die Ursachen liegen woanders. Die Ablehnung, die mediale Verhöhnung verkennt das Leid, auf das die AfD-Wähler in eben den Denkmustern der Medien Antworten für ihre zunehmend schweren Lebensumstände suchen. Denn die linken Parteien in den USA oder Deutschland und auch in anderen Ländern, wo nun der Rechtsradikalismus blüht, haben sich einfach nur selbst sozialpolitisch immer mehr auf die Rechten zubewegt – bis den Rechten nur noch die radikalen Ränder blieben.
Soziale Werte, Sicherheiten, Sozialismus wurden zu einem Laster aus der ehemaligen DDR – ebenso wie Zensur oder Konformität. Die mediale Verhöhnung wirkt so auch wie ein Ekel gegenüber dem Spiegel – der Beschneidung und Ausbeutung der Schwachen, den Rassismen – der die AfD für die Gesellschaft geworden ist.
Charlotte Misselwitz ist in Ost-Berlin aufgewachsen. Ihre Magisterarbeit „Die ostdeutsche Identität treibt um“ wurde im Stekowicz-Verlag veröffentlicht. Seitdem behandelt sie immer wieder ostdeutsche Themen in Radio und Print. Zudem promoviert sie an den Universitäten Essen und Tel Aviv.
Im November 1989 waren wir gegen die Konformität in der DDR, wir wollten Vielfalt, anders sein dürfen, Länder bereisen. Aber jetzt darf der Islam nicht mehr anders sein? Viele AfD-Wähler reden davon, nun mit einer neuen deutschen Identität stark zu sein. Aber diese neue Unflexibilität ist nicht angeboren. Wer hat die AfD-Mitglieder und Wähler gelehrt, in gesellschaftlichen Hierarchien zu denken und kulturelle Unterschiede zu beschwören?
Viele von denen, die am 9. November für Reisefreiheit auf die Straße gingen, können sich heute das Reisen nicht mehr leisten. Die Pressefreiheit wurde zur Freiheit all derjenigen, die das Lied der Starken am besten singen können.
Dabei glaube ich noch immer an die Werte, für die wir im November 1989 demonstrierten. Aber ich sehe auch den Preis, den wir zahlen mussten: die soziale Gerechtigkeit. Sie wird nun zu einem Wert, der Werte wie Pressefreiheit oder Reisefreiheit zu Luxusgütern werden lässt. Und ich wünsche mir, die AfD-Wähler könnten eines Tages sehen: Dieser Preis, die zunehmende Ungleichheit und die Verachtung der Schwachen, hat auch ihr Leben geprägt und sie zu einer Bewegung gemacht, der sie heute angehören.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“