piwik no script img

Debatte Boko Haram in NigeriaNur Chibok zählt

Kommentar von Katrin Gänsler

Tausende Menschen werden aus den Händen der Terrormiliz befreit. Das interessiert nur wenige. Im Fokus steht eine bestimmte Gruppe.

Amina Ali Nkeki während ihres Besuchs beim Präsidenten Foto: dpa

E s waren herzzerreißende Bilder. Nigerias Präsident Muhammadu Buhari beugt sich über die kleine Safiya und lächelt das Mädchen vorsichtig an, nimmt es schließlich sogar auf den Arm. Daneben steht ihre Mutter, die 19-jährige Amina Ali Nkeki. Ihr Blick ist leer und wandert häufig zu Boden. Sie wirkt wie eine Betrachterin, die mit der Szene nichts zu tun hat. Vermutlich wäre die junge Frau nie in die „Villa“, so heißt der Präsidentensitz, gekommen und hätte auch nie Präsident Buhari getroffen, wenn sie nicht zu den 276 Mädchen gehören würde, die in der Nacht zum 15. April 2014 aus der staatlichen Schule von Chibok von der Terrormiliz Boko Haram entführt wurden. Und vielleicht auch nicht, wenn Amina nicht das erste Entführungsopfer gewesen wäre, das nach zwei Jahren Geiselhaft frei gekommen ist.

Damit ist die junge Frau zum Symbol der Hoffnung und als eine, die überlebt hat, zur Heldin geworden. Dass sie im Sambisa-Wald von einem Mitglied der Bürgerwehr gefunden wurde, bedeutet: Die Mädchen von Chibok leben noch und sind wohl nicht, wie mitunter angenommen, in die Nachbarländer verschleppt und verkauft worden. Es zeigt auch, dass die Aktivisten der Bewegung #BringBackOurGirls recht hatten. Ihr täglicher Protest, um die Mädchen nicht zu vergessen, ist nicht vergebens.

Gleichzeitig verstärken die Bilder und das Interesse an Amina das Gefühl der Zwei-Klassen-Gesellschaft in Nigeria, die selbst bei den Opfern der mörderischen Terrorgruppe gilt. Denn seit gut einem Jahr sind bereits mehrere tausend Mädchen, Jungen und Frauen aus den Händen der Terrorgruppe befreit worden.

Bis heute gelingt es der Armee nach eigenen Angaben regelmäßig, Verstecke der Mitglieder zu finden. Zahlreichen Geiseln schaffen selbst die Flucht, denn längst nicht alle werden rund um die Uhr scharf bewacht. In den Camps für Binnenflüchtlinge berichten sie, wie viele Wochen sie umhergeirrt sind, wie sie um Nahrung betteln mussten, manchmal nur noch Unterwäsche trugen. Viele wissen nicht, wo ihre Kinder sind, ob sie überhaupt noch leben oder ob die Männer brutal erschossen wurden. Doch keines dieser Opfer ist in die Villa eingeladen worden. Buhari muss sich mit einem Chibok-Mädchen präsentieren.

Schlechte Versorgung in staatlichen Camps

Doch es kommt noch schlimmer: Allein im Bundesstaat Borno, eine nordöstliche Terrorhochburg, sind im vergangenen Jahr laut der staatlichen Nothilfeagentur Nema 450 Kleinkinder aufgrund von schlechter Versorgung gestorben – in staatlichen Flüchtlingscamps! Öffentliche Schulen haben geflohenen Kindern und Jugendlichen häufig den Schulbesuch mit der Begründung verweigert, dass Zeugnisse fehlen würden. Private Helfer beklagen zudem, stark von Spenden aus dem Ausland abhängig zu sein. Von den noch immer 2,4 Millionen Binnenflüchtlingen rechnet niemand mit einer finanziellen Unterstützung bei Rückkehr und Wiederaufbau. Doch über all das wird kaum gesprochen. Was zählt, ist Chibok.

Das zeigt auch die Befreiung eines zweiten Mädchens. Noch am Abend, an dem Amina von Buhari empfangen worden war, verkündete die Armee ziemlich überraschend, mit Serah Luka eine weitere Schülerin aus dem sehr entlegenen Ort befreit zu haben. Dabei hatte es zuvor geheißen, zumindest ein Teil der Mädchen sei noch zusammen. Merkwürdig, dass ausgerechnet eine Chibok-Geisel unter den Befreiten war. Es könnte ein strategisches Spiel der Armee gewesen sein. Amina wurde offenbar von einem Bürgerwehr-Mitglied aus ihrem Dorf wiedererkannt und nicht von Soldaten befreit.

Die Zwei-Klassen-Gesellschaft in Nigeria gilt selbst bei den Opfern der Terrormiliz

24 Stunden später zeigte sich, dass Serah Luka zwar in Chibok zur Schule gegangen war, aber nicht zu jenen Schülerinnen gehörte, die gerade ihre Abschlussprüfungen schrieben. „Wir freuen uns genauso über die Rückkehr dieses Mädchens“, verkündete eine Aktivistin gegenüber dem Sender CNN zwar anschließend. Begeisterung klingt anders.

In der Tat sind die jungen Frauen ein Gradmesser für die Regierung. Im Kampf gegen Boko Haram wird sie immer daran gemessen werden, ob die Chibok-Mädchen endlich gefunden und befreit sind. Deshalb klingen auch die bereits im Dezember geäußerten Beteuerungen, der Kampf sei „technisch gewonnen“, wenig enthusiastisch. Selbst wenn die Miliz auf dem Rückzug ist und das Militär tatsächlich Tausende Menschen befreit hat, wird sich immer wieder die Frage nach Chibok stellen.

Versagen des Staates

Allerdings ist der Fall aber auch deshalb speziell, weil die Schülerinnen nicht zu Hause bei ihren Eltern, auf den Feldern oder dem lokalen Markt waren, sondern in staatlicher Obhut. Sie mussten ihre Abschlussprüfungen – Schlüssel für die Zukunft – schreiben, obwohl in den Wochen zuvor häufig über die Sicherheitslage diskutiert worden war. Mehr als alle anderen Anschläge zeigt Chibok somit auch das Desinteresse und Versagen des Staates, was sich nach dem 14. April 2014 noch fortsetzte. Es dauerte knappe drei Wochen, bis sich der damalige Präsident Goodluck Jonathan überhaupt erst zu der Entführung äußerte.

Amina könnte dem Militär nun hilfreiche Informationen aus erster Hand liefern, so hofft man. Ihren Informationen zufolge sind 6 der 219 Mädchen gestorben. Trotz der Hoffnung dürfte das bei vielen Eltern wiederum für Angst und Ungewissheit sorgen. Sie soll auch gesagt haben, der Sambisa-Wald und vor allem die übrigen Mädchen seien weiterhin stark bewacht. Regierungskritiker interpretieren es so, dass ein multinationaler Befreiungseinsatz unumgänglich ist. Tatsächlich ist weiterhin nur wenig bekannt und Augenzeugin Amina schwer traumatisiert. Doch anstatt zur Ruhe zu kommen, musste sie gemeinsam mit dem Präsidenten vor Fernsehkameras.

Für Serah Luka dürfte es unterdessen sehr gut sein, kein echtes Chibok-Mädchen zu sein. Schon zwei Tage nach ihrer Befreiung hatte niemand mehr Interesse an ihr. Sie wird nicht so vorgeführt wie Amina und die kleine Safiya und hat hoffentlich bessere Chancen, die Grausamkeiten irgendwann einmal aufarbeiten zu können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Westafrika-Korrespondentin
Nach dem Abitur im Münsterland bereiste sie zum ersten Mal Südafrika und studierte anschließend in Leipzig, Helsinki und Kopenhagen Journalistik und Afrikanistik. Nach mehreren Jahren im beschaulichen Schleswig-Holstein ging sie 2010 nach Nigeria und Benin. Seitdem berichtet sie aus ganz Westafrika – besonders gerne über gesellschaftliche Entwicklungen und all das, was im weitesten Sinne mit Religion zu tun hat.
Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • In Nigeria gibt es das Phänomen seit Jahren, kein Wunder, dass der Präsident erst spät reagiert. Ja, es gibt auch ein Problem mit bestimmten islamistischen Gruppen und Gewalt in Nigeria. Übrigens auch mit Christfundamentalismus.

  • Das ist Journalismus. (Und Mut.) Auch wenn bzw. weil sich beim Lesen, beim Verarbeiten, der Magen verkrampft und die Wut hochsteigt. Danke für diese, (nachrichtenagentur)kulissendurchbohrenden, Zeilen.