Debatte Arabischer Frühling in Tunesien: Alte verwalten Junge
Wie kann die gesellschaftliche Transformation gelingen? Nur wenn junge Menschen begründete Hoffnung auf eine ökonomische Perspektive haben.
Proteste und Demonstrationen in ganz Tunesien, ein toter Demonstrant, hunderte Festnahmen. Die Proteste richten sich gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Sozialversicherungsbeiträge bei gleichzeitigen Preiserhöhungen. Die Maßnahmen sind Teil des Sparhaushalts 2018, auf den sich Tunesien mit seinen Gläubigern geeinigt hat, und sie treffen die Armen und die Mittelschicht.
Hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen, fehlende Lebensperspektiven waren Auslöser des Arabischen Frühlings. Initialzündung für den Sturz Ben Alis, der am 14. 1. 2011 flüchtete, war die Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi. Mit seinem wirtschaftlichen und sozialen Elend konnte sich eine ganze Klasse junger Menschen identifizieren.
Tunesien ist der letzte demokratische Hoffnungsträger des Arabischen Frühlings. Doch misst man den Erfolg des Modells Tunesien an der Lebenssituation der tunesischen Jugend, fällt die Bilanz mager aus. Kein Land hat im Verhältnis zur Einwohnerzahl so viele junge Leute bei den Terrormilizen des Islamischen Staates. Und 40 Prozent der Jugendlichen würden gerne ihr Land verlassen. Die italienischen Behörden haben 2017 fast 8.000 Tunesier aufgegriffen. Zwei Drittel davon Männer, zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Ein großer Teil der tunesischen Jugend ist frustriert, wirtschaftlich und politisch abgehängt.
Eine Kaste alter Politiker, verkörpert im greisen Staatspräsidenten Beji Caid Essebsi (92), regiert das Land zusammen mit der islamistischen Ennahda. Das Credo beider Parteien ist ein absoluter Neoliberalismus. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit beschränkt sich darauf, den üppigen Beamtenapparat weiter aufzublähen.
Problem Korruptionsamnestie
Trotz eines neuen Antikorruptionsgesetzes und eines verstärkten strafrechtlichen Vorgehens existiert die Parallelwirtschaft weiter. Die Behörden vermuten, dass in der über 30 Jahre andauernden Ära von Ben Ali mehr als drei Milliarden Dollar Bestechungsgelder geflossen sind. Personen, gegen die ein Verfahren wegen Korruption aus dieser Zeit läuft, könnten nun mit dem neuen Antikorruptionsgesetz gestohlene Gelder preisgeben und zurückzahlen – und dadurch ungestraft davonkommen. Kritiker sehen in dieser Korruptionsamnestie einen Widerspruch zu den Idealen der Revolution. Sie befürchten, dass die alten, kriminellen Eliten wieder in die Gesellschaft integriert werden.
Und die Superreichen denken ohnehin nicht daran, im eigenen Land zu investieren und für mehr Wohlergehen zu sorgen. Ihnen und einer saturierten, städtischen Mittelschicht sind die abgehängten Jugendlichen und ihre Brüder, die Bootsflüchtlinge, so fern wie einem deutschen Grenzbeamten.
ist Ressortleiterin der taz und Redakteurin für Reise und Interkulturelles. Tunesien und die dortige Zivilgesellschaft besucht sie seit vielen Jahren.
Tunesien hängt am Tropf internationaler Geldgeber. Geberländer und Finanzinstitutionen haben für die Jahre 2016 bis 2020 Investitionen vor allem in den Bereichen Umwelt, Energie und soziale Entwicklung von rund 6,5 Milliarden US-Dollar vereinbart und weitere 8,3 Milliarden US-Dollar zugesagt. Auch Deutschland ist pro Jahr mit fast 300 Millionen Euro dabei. Allerdings ist in allen drei Bereichen von Reformen wenig zu spüren: Im Kampf um Posten und Pöstchen, im bewegten Machtkarussell eitler Politiker herrscht der Reformstau. Die Kommunalwahlen, ein wichtiger Baustein für Bürgerbeteiligung, werden immer wieder verschoben, während sich die Müllberge in den Ortschaften häufen.
„Die politische und gesellschaftliche Transformation der nordafrikanischen Länder kann nur gelingen, wenn die jungen Menschen begründete Hoffnung auf eine ökonomische Perspektive haben“, schreibt die Gesellschaft für Politik und Wissenschaft. Zwar ist es Tunesien und den meisten nordafrikanischen Staaten gelungen, das Bildungsniveau der Bevölkerung zu heben – mit Ausnahme von Marokko und Sudan. Aber eine Anhebung des Bildungsniveaus ist keine Beschäftigungsgarantie. Wo es zu wenig Arbeit gibt, sind junge Erwachsene von Staat und Familie abhängig. Die Jugendlichen befinden sich in einem Wartestadium, in dem die Hoffnung auf ökonomische und gesellschaftliche Teilhabe schwindet.
Neoliberale Ausrichtung der Politik
Hinzu kommt die demografische Entwicklung. Dabei steht Tunesien mit seinen heute elf Millionen Einwohnern besser da als andere arabische Staaten. In den sechziger Jahren hatten Syrien und Tunesien noch etwa gleich viele Einwohner, nämlich fünf Millionen. Heute aber gibt es etwa doppelt so viele Syrer wie Tunesier. Der Grund ist einfach: In den sechziger Jahren hat Präsident Habib Bourguiba dafür gesorgt, dass die Pille zugelassen und kostenfrei war, Abtreibung erlaubt wurde.
Das Bevölkerungswachstum überfordert die Staaten und die familiäre Solidarität. Hinzu kommt, dass die Modernisierung traditionelle Strukturen auflöst, und die neoliberale Ausrichtung der Politik tut ihr Übriges, um soziale Reformansätze im Keim zu ersticken. So wächst eine Generation von Enterbten heran: ökonomisch, politisch, kulturell.
„Während die Generation der 1960er Jahre an die staatlichen Utopien glaubte und von der wirtschaftlichen Prosperität profitierte, ist die heutige Generation in ihrem Sozialaufstieg blockiert“, schreibt Professor Rachid Ouaissa vom Centrum für Nah- und Mitteloststudien. Statt um politische Themen wie Meinungsfreiheit gehe es den meisten jungen Menschen um die Sicherung ihrer Grundbedürfnisse. So das Fazit einer aktuellen Studie, die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in acht Ländern im Nahen Osten und Nordafrika durchgeführt wurde.
Diese Jugend kämpft um Teilhabe, ein würdiges Leben, um Arbeit, Perspektiven. Und jene, die Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben haben? Die Linke ist in Tunesien zersplittert und wirkt mit ihren „ismen“ unattraktiv. Tunesien braucht eine neue linke politische Alternative von unten. Wie Podemos in Spanien, wo die Jugendarbeitslosigkeit mit 38,2 Prozent kaum weniger hoch ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht