Debatte Antisemitismus: Die Empörung ist verzerrt
Die größte Gefahr für Juden in Deutschland geht nach wie vor von Neonazis aus. Und nicht etwa von arabischen Jugendlichen.
J osef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, hat zweifellos recht: In muslimischen Gegenden Berlins und andernorts sich als Jude erkennen zu geben, ist nicht ohne Risiko. Antijüdische Gewalttaten mögen zwar öffentlichkeitswirksame Einzelfälle sein, die publizistisch ausgeschlachtet werden, doch verbale Ausfälle, Beschimpfungen, feindselige Blicke gegenüber äußerlich erkennbaren Juden, Kippa–Trägern etwa, sind durchaus zu erwarten – so wie es auch muslimische Kopftuchträgerinnen täglich erfahren müssen.
Antijüdisches Mobbing wird zudem auch von einigen Schulen in Berlin berichtet, und jüdische Schüler haben deshalb die Schule gewechselt. Bei all diesen antisemitischen Vorfällen ist dennoch bemerkenswert, dass ähnliche antimuslimische Gewaltakte, die Schändung von Moscheen etwa, keineswegs eine Empörung hervorgerufen haben, die mit der über die Schändung von Synagogen vergleichbar wäre. Die unterschiedlichen historischen Erfahrungen von Juden und Muslimen in Deutschland bieten hierfür nur eine teilweise Erklärung.
Die antijüdischen Ausfälle haben als Nachhall mit dem Gazakrieg 2014, wie bereits nach dem Gazakrieg 2008/2009, stark zugenommen. Nach dem Ende der israelischen Bombardierungen und des Raketenbeschusses von Gaza auf israelisches Gebiet findet der Gazakrieg also mit anderen Mitteln auf europäischen Straßen statt.
Die Gewalt der Neonazis
Während nun dieser „muslimische“, vor allem unter mutmaßlich arabischstämmigen Jugendlichen entwickelte Antisemitismus zunächst vor allem aus antiisraelischen Motiven – Stichwort Siedlungsbau und Gaza – herrührt, hat sich, umgekehrt, der Antiisraelismus der Rechten und der Neonaziszene aus ihrem Antisemitismus entwickelt. Er ist deshalb anders geartet: Er ist gewalttätig.
ist emeritierter Soziologieprofessor der Universität von Toronto, Autor zahlreicher Bücher über Juden in Deutschland nach 1945 und Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Neuere Studien zeigen, dass zumindest in Deutschland die weitaus größte Zahl der Gewalttaten gegen Juden, einschließlich auf Motorhauben eingeritzte Hakenkreuze, aus der rechten Szene kommt. Darüber hinaus haben, wie der Essayist Bernard Avishai unlängst schrieb, Besatzung und Siedlungsbau auch außerhalb antisemitischer Milieus die Stimmung zu Israel und jüdischen Institutionen heftig eingetrübt. Hier und andernorts ist es eben schwierig geworden, Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus klar voneinander zu trennen.
Klar ist aber auch, dass die derzeitige israelische Politik diesen Antisemitismus multipliziert, denn zu der Zeit, als sich Rabin und Arafat die Hände gaben, war auch die Antisemitismusquote am Boden. In jedem Fall ist es inakzeptabel, Kritik an der derzeitigen Besatzungs– und Siedlungspolitik der israelischen Regierung als Antisemitismus zu verunglimpfen.
Die Noch-nicht-Israelis
Ob „muslimischer“ oder neonazistischer Judenhass: Tatsache ist, dass die europäisch–jüdische Diaspora zusehends nicht nur als integraler Teil Israels gesehen wird, sondern zumindest in bestimmten Segmenten sich zu einem integralen Teil einer israelischen globalen Gemeinschaft zu entwickeln beginnt. Hierbei droht der kulturell und politisch eigenständige, jahrhundertealte Charakter der Diaspora zu schwinden. Der World Jewish Congress, unter Nahum Goldmann eine wichtige jüdische Stimme außerhalb Israels, ist bedeutungslos geworden.
Gleichzeitig werden Diaspora-Juden zu oft als Noch–nicht–Israelis definiert; eine Definition, die den Unterschied von Diaspora und israelischer Staatsbürgerschaft auszulöschen sucht. Zu Ignatz Bubis’ Zeiten war es in Deutschland noch ein Fauxpas, wenn nichtjüdische Deutsche Juden gegenüber als von „eurem Ministerpräsidenten Rabin“ sprachen. Heute, mit Netanjahu, ist jedoch die israelische Knesset das „Parlament aller Juden“, er selbst maßt sich an, für alle Juden zu sprechen, und nimmt so das Diaspora-Judentum als Geisel für seine Besatzungs– und Siedlungspolitik. Alle französischen und allgemein alle europäischen Juden gehören demnach angeblich nach Israel.
Harter US-Antisemitismus
Es ist geradezu eine Kampagne gegen die selbständige Existenz der Diaspora geworden. Mit einer Ausnahme freilich: Amerikanische Juden gehören weiterhin in die USA – wohl vor allem wegen der finanziellen Unterstützung Netanjahu–freundlicher Kongressabgeordneter durch konservative wohlhabende amerikanische Juden, die nicht daran denken, die USA zu verlassen und nach Israel zu ziehen. Dabei sind die USA weit davon entfernt, frei von Antisemitismus zu sein: Ähnlich wie in europäischen Ländern stellen Erhebungen einen Hardcore-Antisemitismus bei 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung fest, hinzu kommen jährlich tausende antijüdischer Gewalttätigkeiten bis hin zu Morden.
Dabei wird verblüffenderweise außer Acht gelassen, dass 9/11 nicht nur eine Attacke gegen die USA war, sondern auch gegen das „Finanzjudentum“. Diese Attacke war das schrecklichste antijüdische Verbrechen seit Kriegsende überhaupt. Aber das wird kaum zur Kenntnis genommen, denn in den USA sind Juden angeblich sicher. Kein israelischer Ministerpräsident oder anderer israelischer Politiker hat nach dem Fall der Twin Towers amerikanische Juden aufgefordert, nach Israel auszuwandern, wie Netanjahu dies nach Paris getan hat.
Die Tatsache, dass in Europa jüdische Orte unter Polizeischutz stehen, heißt also noch lange nicht, dass jüdisches Leben nicht bedroht ist, wo dieser Polizeischutz fehlt oder nicht sichtbar ist (und stattdessen an die Homeland Security delegiert wird). Von der Gefahr für Leib und Leben in Israel ganz zu schweigen.
Josef Schuster spricht sicherlich für viele Juden in der Diaspora, wenn er von Israel als unserer Lebensversicherung spricht. Wie sicher diese Lebensversicherung in einer Zeit wachsender politischer Isolierung Israels ist, ist aber eine andere Frage: Eine selbstverschuldete Isolation, man denke nur an Netanjahus Auftritt in Washington. Doch eine autonome jüdische Diaspora, die für kulturelle, soziale und politische Vielfalt steht, wäre ein Garant dafür, dass Juden in aller Welt von sich sagen könnten: Als jüdische Bürger eines anderen Landes unterstützen wir den Staat Israel, aber Netanjahu spricht nicht mit unserer Stimme.
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