Debatte Adoptionen Haiti: Kinder machen keinen Staat
Der aktuelle Hype um Auslandsadoptionen zeigt den staatsfeindlichen Zeitgeist. Die Bilder für diese Privatisierungswut liefern die Hollywoodstars.
Tausende warten noch darauf, adoptiert zu werden." Solche Sätze sagen "Experten" auf dem US-amerikanischen Sender Fox und meinen Kinder in Haiti. Seriöse Medien ebenso wie die Hilfsorganisationen halten Auslandsadoptionen zum jetzigen Zeitpunkt hingegen für grundfalsch. In dem gegenwärtigen Chaos schnelle, unbürokratische Adoptionen zuzulassen bedeute dem Kinderhandel die Tür zu öffnen.
Wie kommt es dann, dass die mediale Verhandlung der Katastrophe von Haiti mittlerweile fest verbandelt ist mit der Frage, ob die beste Hilfe nicht sei, zumindest die kleinen obdachlosen Menschen auszufliegen? Weil sie dem neoliberalen Zeitgeist entspricht - und der beschäftigt sich lieber mit Familiengründungen oder -erweiterungen als mit Staatsfragen.
Natürlich sind Kinder immer gut, um für Hilfe zu werben. Ob es dabei um Spenden geht oder darum, einen Bausparvertrag zu erwerben - immer transportiert das Bild vom großäugigen Kind die Verheißung von Unschuld und Zukunft. Oder eben von Wachstum - siehe Bausparvertrag. Dennoch genießt das Icon "Kleinkind" im Zusammenhang mit Haiti eine ungewöhnlich große Bedeutung.
Ines Kappert ist Meinungsredakteurin der taz.
So steht der gegenwärtige mediale Hype im krassen Missverhältnis zu den tatsächlich adoptierten Kindern. Schätzungsweise sind 380.000 Kinder verwaist. Bei etwa 900 Kindern wurden die Adoptionsverfahren vor der Katastrophe eingeleitet, 363 sollen bislang ausgeflogen worden sein.
Dieser Zahlenabgleich zeigt: Die private Hilfe vermag nur einen Bruchteil der Hilfebedürftigen zu erreichen. Sie kann nicht annähernd der Masse der Notleidenden eine Perspektive eröffnen. Entwicklungshilfe muss im Land stattfinden, nirgendwo anders. Insofern dient die Adoptionsidee vor allem den Leuten außerhalb von Haiti, den wenigen tatsächlich Adoptierwilligen und den vielen BeobachterInnen, die sich von überindividuellen Fragen überfordert sehen. Die unbedingt glauben möchten, eine Familie könnte einen kaputten Staat ersetzen. Und die es in ihrem moralischen Impetus erstaunlich eilig haben. Leicht übersehen sie: Die allermeisten der Kinder, die in Lebensgefahr schweben, würden es nicht in ein wie auch immer erleichtertes Adoptionsverfahren schaffen. Sie nämlich sind in aller Regel nicht registriert, offiziell existieren sie gar nicht.
Diese Unerfahrenheit und auch diese Ungeduld, sich mit strukturellen Fragen zu beschäftigen, rühren nicht zuletzt von der Diskreditierung des Staates und der Glorifizierung der Privatisierungen in den letzten zwanzig, dreißig Jahren her. Die adoptionswütige Angelina Jolie oder auch Madonna sind dafür nur Symptome. Sie liefern die Bilder für diese konservative Emanzipation vom Gemeinwesen. Aber auch Wyclef Jean, der in Haiti geborene Hiphop-Star, der seit dem Erdbeben sehr erfolgreich für Spenden wirbt, mithin der privaten internationalen Hilfe sein Gesicht leiht, bedient die Kind-Symbolik. Und zeigt damit, wie tief der Wunsch im Mainstreamdenken verwurzelt ist, Probleme zu familiarisieren.
Einen Tag nach seinem Auftritt bei den Grammies fragte ihn ein Moderator vom US-amerikanischen Sender PBS: "Was macht Sie so sicher, dass wir Amerikaner diese Katastrophe nicht wieder so schnell vergessen werden? Denken Sie nur an ,Katrina'." Woraufhin Jean antwortet: "Wir haben es hier mit einem wirklich jungfräulichen Land zu tun. Jenseits der Hauptstadt gibt es die unglaublichsten Strände. Haiti zu helfen ist gut für die Welt."
Gekonnt kitzelt der megasellende Popstar die Sehnsucht der Massen: An unberührte Orte vorzudringen, ein guter Tourist zu sein und auch ein bisschen Pionier - welche Verlockung. Unter der Hand führt Jean zudem einen sexuellen Subtext ein: Dass die Entjungferung eine Premiumfantasie vieler ist, ist bekannt. Aber nicht genug damit, dass Haiti unberührt sei - es sei auch "unreif", fügt er hinzu. Wiederum wird mit der Symbolik des unschuldigen, aber attraktiven Kindes für Hilfe geworben. Denn nun kann der begehrliche Tourist Vater oder Mutter werden. Ihm und ihr wird nahegelegt, das hilfsbedürftige Land zu adoptieren.
Haiti braucht Hilfe. Und zwar langfristig. Wer diese notwendige Ausdauer aber in die Symbolik eines Eltern-Kind-Verhältnisses übersetzt, wird mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht fertigwerden. Mitnichten ist das zerstörte Land ohne funktionierenden Staat unschuldig. Gewalt gehört zum Alltag, Kindersklaven gehören zum Alltag. Mitnichten gilt es nur Guten oder Unmündigen zu helfen. Sondern möglichst allen, auch wenn sie nicht schon aufgrund ihrer Körpergröße zu den Helfern aufschauen werden. Die mediale Konzentration auf Kinder ist richtig, wenn es darum geht, die besonders Verletzlichen zu zeigen. Kinderschutz ist in Haiti eine gigantische Aufgabe. Sie wird aber falsch, wenn sie eingesetzt wird, um die Realität zu verdrängen.
Nichts ist dagegen zu sagen, wenn Prominente für Spenden werben und selbst auch erkleckliche Summen springen lassen. Die Idee aber, Familybuilding sei eine humanitäre im Sinne einer überindividuell positiven Handlung, ist fahrlässig. Sie verkennt geflissentlich, dass sich nur die sehr Reichen ihren Staat machen, nämlich kaufen können. Folglich auf ein funktionierendes Staatswesen nicht angewiesen sind.
Jetzt hilft nur die Investition in Strukturen: Geht es im Moment um Geld für Nothilfe, wird es bald um Schuldenerlasse gehen und den Aufbau eines Staates, der Schulen und Krankenhäuser unterhält und das Gewaltmonopol verteidigt. Das lässt sicht mit Kindern nicht machen, sondern nur mit Erwachsenen. Die dem Kinderhype innewohnende Verfemung von ausgewachsenen HaitianerInnen ist daher kontraproduktiv.
Wie sehr die Kinderfrage mit der Frage der Staatsbildung zusammenhängt, zeigt nicht zuletzt, dass sich der haitianische Staat vorgestern erstmals zurückmeldete. Und zwar, indem er verlautbarte, dass er und nicht die USA die diese Woche aufgegriffene Baptistengruppe aus den USA zur Rechenschaft ziehen wird. Diese hatte versucht, Kinder illegal außer Landes zu schaffen.
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