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Das SchlaglochPanik und Erlösung

Kommentar von Sarah Eltantawi

Ägypten arbeitet gerade seine Geschichte der Spaltung und Verfolgung auf. Trotz vieler Proteste gegen Präsident Mursi wird es keinen Bürgerkrieg geben.

Ihn beschrieben viele als „Ersatzreifen“ der Muslimbrüder und „Schoßhund“ der Armee: Präsident Mursi. Bild: reuters

A uf eine Sache können wir uns bestimmt problemlos einigen: In Ägypten gab es im Januar/Februar 2011 eine Revolution gegen eine Militärdiktatur. Besagte Militärdiktatur bestückte Ägyptens Justiz, die Armee, den staatlichen Geheimdienst und diverse Berufsverbände mit ihren Gefolgsleuten. Alle zusammen bildeten das, was Politologen einen „Staat im Staat“ nennen. Über den Rest müssen wir reden.

Eine Reihe von Vorwahlen, Stichwahlen und endgültigen Wahlen brachten die Muslimbrüder letztlich legitimerweise an die Regierung, das gilt auch für den heutigen Präsidenten Mohammed Mursi. Ihn beschrieben viele als „Ersatzreifen“ der Muslimbrüder und „Schoßhund“ der Armee. Noch in den ersten Wochen seiner Amtszeit trickste Mursi den Obersten Militärrat (SCAF) geschickt aus und die Rede vom Schoßhund ist seitdem vom Tisch.

Am 22. November dann erließ Mursi eine Reihe ziemlich wenig ersatzreifenmäßige Dekrete und erklärte die verfassunggebende Versammlung als immun gegenüber der Justiz. Und wo er schon dabei war, erklärte er sich selbst auch gleich als immun. Das aber nur vorübergehend. Man könne ihm vertrauen, schließlich fürchte er Gott.

Es bleibt unverständlich, warum die Säkularen und die Christen die verfassunggebende Versammlung verlassen haben. Keine ihrer Begründungen hat mich überzeugt. Man zieht sich nicht von welcher Position auch immer zurück, wenn Islamisten den Präsidenten und die Mehrheit im Parlament stellen und zumindest an der Oberfläche das Militär zu kontrollieren scheinen. Aus Prinzip nicht. Denn es gibt kein „Prinzip“, das wichtiger wäre als diese Fakten. Du bleibst und kämpfst, dazu gibt es keine rationale Alternative. Warten die Liberalen etwa darauf, dass wieder mal eine „weltliche“ Diktatur vorbeikommt und alle Islamisten wieder einsperrt?

„Abscheulicher Auftritt“

Womit wir bei der Justiz wären. So gut wie die gesamte ägyptische Justiz befindet sich derzeit im Streik, einschließlich des Verfassungsgerichts. Das weigerte sich angesichts des „abscheulichen Auftritts“ von „Schande und Undankbarkeit“ seitens jenes „einschüchternden Mobs“ – gemeint sind die Anhänger der Muslimbrüder –, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Die New York Times indessen sprach (am 3. Dezember) von „einer relativ ruhigen Gruppe von ein paar hundert Muslimbrüdern …“

Wie kann das sein? Die einen sehen einen Mob, der so blutdürstig und einschüchternd ist, dass die mächtigsten Richter des Landes, flankiert von zig Sicherheitskräften, nicht mehr wagen, zur Arbeit zu gehen. Die anderen sehen ein paar hundert weitläufig bärtige, „ruhige“ und wahrscheinlich eher arme Muslimbrüder, die darauf hoffen, dass in Ägypten bald das Gesetz Gottes gelten möge.

privat
Sarah Eltantawi

promovierte in Islamwissenschaften in Harvard und hat derzeit ein Postdoc-Stipendium an der University Brandeis für Religion, Kultur, Gender und Recht. Sie lebt in Kairo.

Was die Liberalen nicht sehen

Fragt man ägyptische Liberale, wird ihre Antwort irgendwie „Fanatismus“, „Fundamentalismus“ und „Sie haben ihnen Öl und Brot gegeben“ enthalten. Zu meinem eigenen Erstaunen habe ich inzwischen etwas anderes begriffen: Die islamistischen „Massen“ denken rational, zumindest in der Mehrheit.

Wenn sie sich nicht gerade darum bemühen, Brot für ihre zunehmend verarmten Kinder aufzutreiben, nehmen sie völlig zu Recht wahr, dass „Demokratie“ und „Diktatur“, die ja die großen Gegensätze sein sollen, für sie und ihr Leben keinen großen Unterschied machen. Korruption bleibt Korruption, Stehlen bleibt Stehlen. Und so hoffen diese ganz normalen Leute darauf, dass Gottes Gesetz etwas hinbekommt, woran das Gesetz der Menschen gescheitert ist: die stehlenden Eliten zu bestrafen.

Das religiöse Bewusstsein ist tief in Ägypten verankert – in dem Sinne, dass es immer etwas mehr gibt, als das Auge sieht, in dem Sinne, dass alle ägyptischen Monumente und ja auch Flüsse etwas Außerweltliches umgibt. Das ist jetzt natürlich unwissenschaftlich, aber das sind die meisten Dinge.

Und die Muslimbrüder? Die füllen diesen Geist in Flaschen ab und verkaufen ihn an die zunehmend verzweifelten Ägypter. Ja, das ist schändlich, aber nur in dem Sinne, in dem jede Politik schmutzig und unehrlich ist. Die wirkliche Schande ist, dass Mursi und seine Partei auf katastrophale Weise in Panik geraten sind am 22. November. Es ist überhaupt keine Frage, dass sie überreagiert haben.

Die Panik der Islamisten

Ich muss an die Geschichte der Muslimbrüder denken. Sie begannen 1928 als eine Bewegung, die sofort als Bedrohung für den liberalen Status des Landes gesehen wurde. Ich denke an die 25.000 Muslimbrüder, die in nur einer Nacht unter Gamal Abdel Nasser verhaftet wurden. Die sich daraufhin in einen gewalttätigen und einen moderaten Flügel spalteten, doch so gut wie jeder von ihnen wanderte ins Gefängnis, auch Mursi.

Plötzlich wurden die Muslimbrüder „hinter der Sonne beherbergt“, so lautet die gemeine Umschreibung für politische Gefangene. Dann begreife ich die Panik der Islamisten. Sie verhalten sich ähnlich wie ein Tier, das an das Leben außerhalb der Gitter noch nicht gewöhnt ist. Und ich sehe die Tragik darin.

Die Proteste der Liberalen auf dem Tahrirplatz und die Proteste der Islamisten vor der Kairoer Universität sind Bühnen, auf denen Ägypten seine Geschichte der Spaltungen und Verletzungen auslebt. Die meisten Liberalen verstehen dabei nicht, dass die Revolution auch den Islamisten gehört und dass auch sie Teil von Ägypten und seiner Geschichte sind. Bei den Islamisten hat die Verfolgung zu einer enormen Horizontverengung geführt. Sie leiden unter einer zerstörerischen Paranoia und Arroganz.

Doch nichts von alledem wird einen Bürgerkrieg auslösen, Ägypten macht keinen Bürgerkrieg. Tief in unserer Kultur ist ein Wissen verankert, dass alle menschlichen Herzen von der gleichen Quelle leben. Ich bin überzeugt, dass die Ägypter ein weiches Herz haben. Ich bin überzeugt, dass die Islamisten verstehen, dass sie kleiner sind als Gott und Gott größer ist als alles. Ich bin überzeugt, dass die meisten Ägypter die Angst und das Missverstehen überwinden und ihren Weg über den Nil auf die andere Seite machen werden.

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5 Kommentare

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  • C
    Christine

    Das Beste an diesem Artikel sind die Leserbriefe.

  • A
    anke

    @simon23 und meine sache:

    Da haben sie den Kommentar nun schon extra mit "Schlagloch" übertitelt, und doch seid ihr genau hinein gerumpelt. Tssss!

     

    Dass auch alle Anderen ein Teil der Geschichte sind, wollen offenbar sehr viele Menschen nicht begreifen. Horizontverengungen sind kein Privileg ägyptischer Islamisten oder selbsternannter Liberaler, scheint mir. Dass auch nur ein einziger Mensch auf dieser Welt auf Verletzungen ausschließlich souverän und erwachsen reagiert, kann ich nicht glauben. Paranoia und Arroganz sind fast immer das Ergebnis, wenn man Menschen einer Macht unterwirft, die sie gewaltsam klein und dumm hält. Der Satz "Ägypten macht keinen Bürgerkrieg" ist vor diesem Hintergrund vermutlich eher eine Beschwörungsformel als eine tatsächliche Überzeugung. Ob sie wirkt? Mal sehen.

  • N
    Nassauer

    Stalin saß auch mal im Knast und war Klosterschüler (Gottesfurcht und so) - Also alles klar!

  • MS
    meine sache

    Ich kann simon23 nur recht geben. Insofern als das die Berichterstattung einseitig, pro islamistisch sind.

    Die Muslimbrüder wurden verfolgt, das lässt Mitleid aufkommen - was noch vertretbar ist, aber das macht die Muslimbrüder nun wirklich kein Deut besser als andere Fanatiker und Faschisten. Nur weil ein Nazi bei uns mal im Knast war, würde ihn doch keiner als geniale Person identifizieren und erklären, er hat halt einen engen Horizont, aber das ist okay, dafür ist er genauso schlimm wie alle anderen in der Politik auch.

     

    Was soll denn das?!

     

    Ist es ein (unterdrückter) Wunsch nach Gott, der die Autorin dazu treibt die Islamisten zu bewundern oder ist es einfach ein Hass auf Personen der Opposition?

     

    Ich weiß es nicht.

     

    Aber ich weiß, dass dieser Bericht Zustände verherrlicht, die auf dem besten Wege sind abermals zu zeigen, wie gefährlich es ist, wenn Faschisten Macht haben.

  • S
    simon23

    Liberale, Linke und Christen haben sich aus der Verfassungsgebenden Versammlung zurückgezogen, um gegen die einseitige Vorgehensweise der mehrheitlichen Islamisten zu protestieren. Wenn die Autorin dies der Opposition zum Vorwurf macht, hat oder will sie nicht verstehen, wie das ganze ablief. Es wäre ein Fehler gewesen, dieser absolut einseitigen Veranstaltung weiter Legitimität zu geben.

    Das es weniger Korruption bei einer religiösen Regierung gäbe ist lachhaft. Das schönste Beispiel ist der Iran. Aber auch dazu kein kritischer Gedanke.

    Auch das Militär - das in der Verfassung alle seine Rechte behält - und Muslimbrüder längst an einem Strang ziehen, wird nicht thematisiert.

    Auch das sie von allen Ägyptern erwartet, das sie sich unter dem gemeinsamen Glauben an Gott einigen sollten, zeigt, das ihr Pluralismus nicht allzu viel bedeutet.

    Leider neigen manche Autoren in der TAZ dazu, Sand in die Augen der Leser zu streuen. Das ist keine schöne Entwicklung.