Das „Kongo-Tribunal“ 2: Nachgeschichte des Menschlichen
Regisseur Milo Rau bereitet vor Ort sein Projekt „Das Kongo-Tribunal“ vor. Das Massaker von Mutarule ist einer der Fälle, die verhandelt werden sollen.
Kurz vor meinem Abflug nach Kinshasa schrieb mir ein befreundeter kongolesischer Studentenführer: Wir sollen ihm bitte die Aufnahmen schicken, die wir vergangenen Sommer anlässlich des Massakers von Mutarule gemacht haben – einem Dorf in der Nähe Bukavus im Ostkongo. In Mutarule sind vergangenen Sommer 35 Kinder und Frauen von Milizen ermordet worden.
Durch eine Verwicklung von Zufällen waren wir das erste Kamerateam vor Ort. Die Einwohner hatten die mit Kalaschnikows und Macheten getöteten, teilweise verbrannten Leichen aus Protest auf die Straße gelegt: eine lange Reihe toter Körper, bis auf eine Ausnahme handelte es sich um Mütter und ihre Kinder, das jüngste war zwei Monate alt. Die Bevölkerung war völlig außer sich. Hätte der Studentenführer nicht für uns Partei ergriffen, die Dorfjugend hätte uns wohl umgebracht, als Antwort auf die absurde Abgebrühtheit und Tatenlosigkeit der Welt.
Doch nun wurde unser Kameramann aufgefordert, jede einzelne Leiche, jedes verbrannte Haus zu filmen. Einige Stunden später traf endlich der Innenminister der Provinz ein. Auch er wäre sofort massakriert worden, hätten ihn nicht bis an die Zähne bewaffnete Elitetruppen begleitet.
Im Flugzeug aus Kinshasa in den Ostkongo erinnere ich mich wieder an jenen Tag im vergangenen Sommer: Ein Bagger hob ein Massengrab aus, die Leichen wurden hineingelegt, der Minister warf unter dem Hohngeschrei der Dorfbevölkerung eine Handvoll Dreck hinterher. Der süßliche Leichengeruch war tagelang nicht aus den Kleidern (und sogar dem Mund) zu kriegen. Seltsamerweise sollte das Schlimmste aber die Montage des Materials werden: als wir aus den weinenden Müttern und gestikulierenden Politikern eine „Szene“ für den Produktions-Trailer schneiden mussten.
Der Theaterautor wurde 1977 in Bern geboren. Er inszenierte unter anderem „Die letzten Tage der Ceausescus“, „Hate Radio“ über den Genozid in Ruanda und „Die Moskauer Prozesse“ zur Gerichtsverhandlung gegen Pussy Riot.
Ein auf tragische Weise typischer Fall
Denn Mutarule ist einer der drei Fälle, die wir im Mai im Rahmen des Kongo-Tribunals verhandeln werden. Der Fall ist auf tragische Weise typisch: Die UNO-Truppen waren, trotz zahlreicher Warnungen, gerade mit einer ihrer üblichen Versöhnungsaktionen beschäftigt und trafen erst vier Tage nach dem Massaker in Mutarule ein.
Die kongolesische Armee, die aus ökonomischen Gründen mit den Angreifern paktierte, hatte sich in der Nacht vor dem Angriff zurückgezogen. Die Mörder ihrerseits wurden gefasst und wieder freigelassen. Das Dorf, das auf einer zentralen Route des Coltan- und Goldschmuggels liegt, ist unterdessen von seinen Bewohnern verlassen worden – was ja der Sinn des Ganzen gewesen war.
Am Nachmittag vor dem Abflug in den Ostkongo esse ich in Kinshasa mit Martin Kobler zu Mittag, dem Leiter der UNO-Mission. Das fast programmatische Scheitern der UNO-Truppen vom ruandischen Genozid bis Mutarule ließ mich einen hilflosen Diplomaten des Stils Boutros Boutros-Ghali erwarten. Der charismatische Kobler jedoch flößt Respekt ein, er hat aus Mutarule ein Fanal gemacht: Die Blauhelmtruppen haben seit dem Massaker endlich eine Schießerlaubnis erhalten. „Nächste Woche greifen wir an“, prophezeit Kobler.
Kommt man im Ostkongo an, so trifft man auf niemanden, der sich von Koblers Optimismus hat anstecken lassen. Die Rebellen überhaupt zu finden sei quasi unmöglich, meint ein örtlicher Militärexperte – sie gruppieren sich ständig um und mischen sich unter die Zivilbevölkerung. Die kongolesische Armee ihrerseits, wichtigster Alliierter der Blauhelme, arbeitet mit den Milizionären zusammen.
Das Ganze sei eine Prestige-Aktion
Einer der Administratoren der Blauhelme bringt es recht offenherzig auf den Punkt: Das Ganze sei eine Prestige-Aktion. „Im Sommer geht unser Chef sowieso wieder woandershin. Bis dahin tun wir eben so, als würden wir das durchziehen. Und dann vergessen wir es einfach.“
So wird es also trotz Koblers Anstrengungen noch viele Mutarules geben. Es scheint, als würden auf deprimierende Weise jene Oldstyle-Marxisten recht behalten, die in den UNO-Truppen und ihren „Aktionen“ nur die humanistische Deko einer völlig aus den Fugen geratenen Welt sehen.
Von Jean Ziegler, der in der Jury des Kongo-Tribunals sitzen wird, stammt ein Satz, der mich immer sehr beeindruckt hat: „Wir befinden uns in der Vorgeschichte des Menschlichen.“ Wir sind noch unfertig, gierig, grausam und gedankenlos wie Tiere, erst auf halbem Weg zum Menschen. Manchmal fürchte ich jedoch, dass wir unsere Chance verpasst haben – und uns bereits in der Nachgeschichte des Menschlichen befinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte