Das Grips Theater spielt wieder: Kein Wecker, kein Frühstück
Im Grips-Theater läuft das Stück „Das Leben ist ein Wunschkonzert“ von Esther Becker. Es zeigt den Alltag benachteiligter Kinder.
Es gibt Kinder, die sind sehr einsam. Auch schon vor Corona und den Kontaktbeschränkungen. Weil sie sich schämen für ihre Familie. Weil sie niemanden zu sich einladen wollen, damit keiner die vielen leeren Flaschen im Flur sieht. Weil sie niemandem erklären können, was zu Hause nicht funktioniert: kein Wecker, kein Frühstück, keine Eltern, die aufstehen und arbeiten gehen. Sondern stattdessen ihren Alkoholrausch lautstark ausschnarchen.
Anna ist so ein Kind, die alleine regeln muss, was eigentlich Sache der Eltern wäre. Zum Beispiel die Pizza bezahlen, die ein Bote bringt. Gleich am Anfang des Stücks „Das Leben ist ein Wunschkonzert“, mit dem das Grips Theater am Samstag wieder eröffnet hat, leert sie ihr Sparschwein dafür, weil die betrunken in der Küche lärmenden Eltern nicht ansprechbar sind. Am nächsten Tag wird es noch schwieriger, kann ihr denn niemand helfen? Lange hat sie nur eine „zugelaufene“ Schnecke als Freundin.
Esther Becker gewann mit dem Text von „Das Leben ist ein Wunschkonzert“ den Berliner Kindertheaterpreis 2019. Was eine tragische Sozialstudie sein könnte, wird sehr spielerisch erzählt aus der Perspektive von Anna (Lisa Klabunde) und einem Schneckenchor (Marius Lamprecht, Regine Seidler, Helena Charlotte Sigal). Die Eltern selbst treten gar nicht auf, ihr peinliches Treiben hinter der Küchentür wird nur akustisch mit leisem Flaschenklirren angedeutet.
Auch die Schnecken lieben das Bier, obwohl sie darin ertrinken können. Die Schnecken in buntem Trikot wirken sehr lustig, wenn sie von ihrer Liebe zum Bier singen, ungeachtet des Wissens, dass es für sie zur tödlichen Falle werden kann. Die Probleme des Alkoholismus werden so ohne moralische Schuldzuweisung abgehandelt.
Inszenierung von Frank Panhans
Die Inszenierung von Frank Panhans leuchtet grün und gelb. Ein Vorgarten ist angedeutet, Wohnung und Möbel werden mit Pappen improvisiert. Die Leichtigkeit des Textes bleibt; dass seine Sprachbilder oft so viel mehr bedeuten als zuerst erkennbar, erschließt sich bald.
„Das Leben ist ein Wunschkonzert“, wieder im Grips im Podewil 1.–3. + 16.–18. Oktober. Mehr unter www.grips-theater.de
Doch trotz der schönen Inszenierung ist die erste Premiere, die das Grips Theater nach der Coronapause zeigen kann, auch eine seltsame Angelegenheit. Dreißig Zuschauer nur dürfen in den Saal im Podewil, gerade mal sieben oder acht Kinder sind darunter, die in der ersten Reihe mit weitem Abstand sitzen. Mehr Nebeneinander, so wie in der Schule, ist für das Theater nicht erlaubt, erläutert der Grips-Leiter Philipp Harpain in einer kurzen Ansprache. Vor allem aber freut er sich, dass es wieder losgeht.
In der Zeit der geschlossenen Theater hat das Grips unter anderem über einen Blog weiter den Austausch mit dem Publikum gesucht. Als Mitte August die überarbeiteten Hygieneregeln des Kultursenats für Innenräume bekannt gegeben worden waren, konnte Harpain in einer Pressekonferenz vorstellen, wie es weitergeht. „Über 60.000 Nutzer*innen des Blogs“ erzählte er, „haben uns gezeigt: Der Wunsch nach Kultur als ein Mittel der Verarbeitung ist immens.
Kinder und Jugendliche sind in dieser Krise lange aus dem Blick geraten. Sie wurden von heute auf morgen aus dem Schulalltag entlassen und von ihrem sozialen Umfeld isoliert. Kinder und Jugendliche mussten monatelang auf sich gestellt mit ihren eigenen und verstärkt den Sorgen und Nöten ihrer Eltern leben, den neuen Anforderungen eines digitalen Unterrichts zurechtkommen, waren in ihrer Bewegungs- und Freizeitgestaltung massiv eingeschränkt.“
Soziale Verantwortung der Kinder
Dass die Situation von Anna aus „Das Leben ist ein Wunschkonzert“ mit diesen veränderten Lebensbedingungen für Kinder korrespondiert, fällt jetzt besonders auf. Das Kinder- und Jugendtheater weiß schon lange davon zu erzählen, wie viel soziale Verantwortung Kinder oft schon übernehmen, bevor das ihrem erwachsenen Umfeld bewusst wird.
Die Schnecken sind ein raffiniertes erzählerisches Mittel. Sie bewegen sich langsam, weit weg scheinbar von den Lasten des Alltag. Sie brechen die großen Probleme auf einen Mikrokosmos zwischen Grünpflanzen herunter. Dass auch ihr Leben ernsthafte Bedrohungen kennt, dafür stehen drei Begriffe: Auto, Hund, Mensch. Ihre Darsteller tragen merkwürdige Requisiten als Schneckenhaus, die dann aber doch sehr nützlich sind für den Rollenwandel, wenn sie zu Pizzabote, Freundin und Nachbarin werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod