DJ über Antisemitismus in der Clubszene: „Propaganda verkauft sich besser“
In Berlin findet eine Soliveranstaltung für die Opfer des Supernova-Festivals in Israel statt. DJ Ori Raz über die Stimmung in der Szene.
Ori Raz, Sie kommen aus Tel Aviv, haben Freunde und Verwandte in Israel. Wie ist es Ihnen in den Wochen seit dem Massaker der Hamas ergangen?
Ori Raz: Es ist eine schwierige Zeit, jeder Aspekt des Lebens hat sich seither irgendwie verändert – für mich, meine Freunde, meine Familie. Wir stellen uns existenzielle Fragen, fürchten um unsere Zukunft.
Moving The Needle: 19. November, ab 14 Uhr, About Blank, Markgrafendamm 24c, Berlin. Livesets und Podiumsgespräch mit den Journalist:innen Anastasia Tikhomirova, Nicholas Potter und dem Produzenten Ori Raz
Welches Signal soll von der Soliveranstaltung am Sonntag ausgehen, was erhoffen Sie sich?
Ich hoffe, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es wichtig ist, für jüdische Menschen und Israelis einzustehen. Das bedeutet nicht, dass man sich weniger um andere Menschengruppen kümmert und sorgt, auch um Palästinenser:innen. In der Clubszene existiert derzeit ein „wir und sie“. Es gibt eine Kultur der Ablehnung gegenüber Menschen, die sich mit Israel oder dem jüdischen Volk solidarisch zeigen. Es war schon vor dem 7. Oktober latent und ist seither eskaliert. Unterschiedliche Meinungen zu haben, ist in Ordnung. Aber es ist wichtig, den anderen zu akzeptieren und in Dialog zu treten. Wenn wir in unserer Szene und unter Freunden das schon nicht schaffen, wie sollen es dann die politischen Leader schaffen?
Die internationale elektronische Musikszene ist mehrheitlich propalästinensisch. Obwohl mehr als 260 Menschen am 7. Oktober beim Supernova-Festival ermordet wurden, gab es kaum Empathie mit Israel. Können Sie sich noch als ein Teil dieser Szene begreifen?
Erst einmal denke ich, dass es in Ordnung und wichtig ist, auch Empathie und Solidarität mit dem palästinensischen Volk zu haben. Doch diese Empathie wird genutzt, um ein Narrativ zu erzwingen, das diesem Volk nicht wirklich helfen wird. Die Mehrheit der Szene hat sehr wenig Ahnung von dem Konflikt – die meisten entscheiden sich für eine Seite. Andererseits glaube ich, dass viele in unserer Szene den Konflikt differenzierter sehen. Aber sie ziehen es vor, sich nicht dazu zu äußern, weil die antiisraelische Kampagne schon lange vor dem 7. Oktober sehr stark war. Es schafft definitiv eine Situation, in der man sich unwohl fühlt in einer Szene, die offenbar vergessen hat, für welche Werte sie einmal stand.
Wie sehr ist fehlendes historisches Wissen ein Problem?
Spaltet der Nahostkonflikt die deutsche oder auch internationale Clubszene?
Leider scheint es so zu sein. Ich hoffe, dass es nur vorübergehend ist und dass Veranstaltungen wie die am Sonntag zur Heilung beitragen können.
Der Erlös der Soliparty wird den Organisationen OFEK, Beit El-Meem und Tribe of Nova zugutekommen. Wofür stehen diese Organisationen?
Hinter Tribe of Nova steckt die Community, die das Supernova-Festival organisiert hat. Sie teilt unsere gemeinsamen Grundwerte: Freiheit, Liebe, Bewegung, Verbindung und Einheit. OFEK ist die erste Fachberatungsstelle Deutschlands, die auf Antisemitismus spezialisiert ist. Sie bietet Beratung und Begleitung im Zuge antisemitischer Übergriffe und Vorfälle auf Deutsch, Englisch, Hebräisch und Russisch an. Das Wort „Ofek“ ist hebräisch und bedeutet Weite oder Horizont. Beit El-Meem ist eine Organisation, die für alle Geschlechter und sexuellen Identitäten in der arabischen Gesellschaft in Israel eine Heimat bieten will. Sie will für die persönliche und soziale Sicherheit jedes Einzelnen sorgen sowie Gewalt und Diskriminierung gegenüber der arabischen LGBTQ-Gemeinschaft bekämpfen.
Es gibt Ravers for Palestine, DJs for Palestine, rund 300 Produzent:innen haben Ende Oktober einen offenen Brief „against Israel’s brutal and ongoing attack on Gaza“ unterschrieben. Gibt es auch viele andere Stimmen in der Szene? Wenn ja, sollten die sich nicht mehr Gehör verschaffen?
Es gibt viele andere Stimmen in der Szene, aber sie haben Angst, ihre Stimme zu erheben, aus einem verständlichen Grund: Für viele ist es ihr Hauptberuf und ihre einzige Einkommensquelle, und sie wollen sie nicht verlieren. Es ist heute leider unvermeidlich, gemobbt zu werden, wenn man Stellung bezieht. Viele halten sich deshalb lieber aus diesem Spiel heraus. Das gilt für alle, nicht nur für DJs.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen