DGB-Demo am 1. Mai: Mehr Buden, wenig Volksfest
Gut 10.000 Menschen feiern mit dem Gewerkschaftsbund den 1. Mai. Ein Ehepaar aus Ost-Berlin, das „schon immer“ herkommt, vermisst die alten Lieder.
Mitten im wogenden Fahnenmeer am Brandenburger Tor steht Ilse Juhnke wie ein kleiner Fels in der Brandung, fest bei ihrem Mann Erich untergehakt, und blickt zufrieden über den Platz des 18. März. Es ist kurz nach 12 Uhr, die ersten Gruppen der traditionellen Gewerkschaftsdemo – DGB, IG Bau, Zentralverband Deutscher Schornsteinfeger – sind am Kundgebungsort angekommen.
„Schon immer“ kämen sie zur 1.-Mai-Kundgebung, erzählt der 82-jährige pensionierte Lehrer aus Lichtenberg. „Früher im Osten, an der Karl-Marx-Allee, jetzt hier.“ Auf die Frage, was sich verändert habe in den letzten Jahren, erklärt er: „Die Friedensfrage wird uns zu wenig besprochen, das Soziale ist eigentlich gut abgedeckt. Aber man hat ja Sorge, dass Kriege ausbrechen können.“ Seine Frau ergänzt: „Dafür wird jetzt endlich über Wohnen und Klima geredet.“
Tatsächlich ist „Europa. Jetzt aber richtig!“ dieses Jahr das Motto der Gewerkschaftsdemo. Wie immer ging es vom Hackeschen Markt zum Brandenburger Tor, laut Veranstalter sind 8.000 Menschen mitgelaufen, weitere 5.000 sollen im Laufe des Mittags zur Kundgebung am Brandenburger Tor gestoßen sein.
„Europa wird entweder sozialer oder scheitern“, ruft Sonja Staack, stellvertretende Vorsitzende des DGB Bezirk Berlin-Brandenburg, mit Blick auf die Wahl am 26. Mai. In Deutschland sei der Reichtum heute so ungleich verteilt wie vor 100 Jahren – das dürfe nicht sein. „Die tatsächlichen Verteilungskämpfe in diesem Land verlaufen nicht zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, sondern zwischen Arm und Reich, zwischen Kapital und Arbeit“, sagt denn auch der Hauptredner, der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, Frank Werneke.
Weniger Arbeiterlieder
Was dem Ehepaar Juhnke nicht so gut gefällt: Früher habe man mehr zusammen gesungen, alte Arbeiterlieder wie „Dem Morgenrot entgegen“ oder „Kleiner Trompeter“. „Manches gab's ja auch im Westen, wie ‚Brüder zur Sonne, zur Freiheit‘“, fällt Ilse ein. „Aber heute kennen die Lieder ja nur noch wenige.“
Es sei früher auch mehr ein Volksfest gewesen: größer und mit Tanzen, Musik und Singen, findet ihr Mann. „Dafür gab's weniger zu Essen und zu Trinken“, sagt er und schaut kurz in Richtung der vielen Buden hinter sich – mit einem Lächeln, das die leise Kapitalismus-Kritik noch sanfter macht. Umso heftiger reagiert er auf die Frage, ob die Demo in der DDR nicht auch größer war, weil viele gezwungen gewesen seien, mitzulaufen. „Das ist Quatsch, blödes Gerede, niemand musste dahin“, brummt er.
Einen gewissen Volksfestcharakter hat die Veranstaltung aber schon: Es gibt Bratwurst (für 3,50 Euro) und Bier, Slush Puppies, Crepès, eine Kinderecke mit Hüpfburgen und Spielmöglichkeiten. So manche Partei und Einzelgewerkschaft hat ein „Glücksrad“ aufgestellt, um Publikum anzulocken. Bei der CDU ist am meisten los, vielleicht weil sie ein Paar Politiker zum Gespräch eingeladen hat, oder aber, weil man hier eine zweitägige Reise nach Brüssel gewinnen kann.
Beim Berliner Mieterverein will eine Frau „gegen die Deutsche Wohnen“ unterschreiben, aber die Kampagne habe noch keine neuen Listen vorbei gebracht, bedauert der Mann am Stand. Er verweist auf die Nachbarn vom Berliner Wassertisch, dort wird ebenfalls für das neue Volksbegehren gesammelt. Man kennt sich halt, von dieser und anderen Demos. „Alles wie immer, bis auf den Wind“, sagt der Mieterverein-Mann und hält seine fast weg flatternden Info-Broschüren fest.
Provokation der „Fake“-DGBjugend
Kurze Aufregung kommt auf, als sich vorne im abgesperrten Bereich an der Bühne eine Gruppe mit dem Transparent „Spaltung! Für die Aufkündigung der Sozialpartnerschaft“ aufstellt. Laut Emblem auf dem Transpi ist es die DGBjugend. Vergeblich versucht ein Ordner des DGB, die rund 20 jungen Leute abzudrängen. „Das ist fake, sie sind nicht von uns und haben hier nichts zu suchen“, sagt er. „Natürlich sind wir DGB-Mitglieder“, erwidert ein junger Mann mit schwarzer Schirmmütze. „Wir machen hier ein Angebot für linke Gewerkschaftler. Wir wollen eine klassenkämpferische Gewerkschaft. Wir kämpfen für eine andere Welt. Ohne SPD.“
Die Fake-DGBjugend skandiert ein paar Sprechchöre wie „A-Anti-Antikapialista“. Kurz darauf ist sie in der Menge verschwunden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!