Coronamaßnahmen in Westeuropa: Die Schotten dicht
In Europa steigt die Zahl der Corona-Neuinfektionen rasant. Mit immer härteren Einzelmaßnahmen versuchen die Regierungen das Virus auszubremsen.
M ehrere Male dankte der britische Premierminister Boris Johnson dem Liverpooler Bürgermeister Steve Rotheram für „dessen Führung und Kooperation“. Für Liverpool wurde am Montagabend die höchste Stufe eines neuen Systems zur Covid-19-Bekämpfung ausgerufen. Die Infektionsrate ist in der nordwestenglischen Hafenstadt inzwischen die dritthöchste im Land – die Siebentagesrate liegt bei 609 von 100.000 Personen.
Das neue System hat drei Stufen. Bei Stufe eins, sie gilt in den meisten Regionen Englands, unter anderem in London, wird die im September verfüge Höchstgrenze von sechs Personen für private Treffen beibehalten, Kneipen und Bars müssen weiterhin spätestens um 22 Uhr dichtmachen. Bei der mittleren Stufe zwei, die die dichtbesiedelten Industrieregionen Mittel- und Nordenglands betrifft, werden zusätzlich Besuche in Innenräumen verboten.
Stufe drei, welche nun in Liverpool gilt, verbietet komplett den Alkoholausschank und auch Kontakte zwischen verschiedenen Haushalten, egal ob drinnen oder draußen. Von Reisen in oder aus Gegenden mit Stufe drei wird abgeraten.
Mit diesem System reagiert die britische Regierung darauf, dass die Corona-Neuinfektionen in Großbritannien inzwischen wieder auf die Ausmaße zum Höhepunkt des Lockdowns im März angestiegen sind. Über die Maßnahmen und die jeweilige Einstufung der Regionen entscheidet die Zentralregierung.
Der Regierung Johnson wurde in den letzten Wochen sowohl von der Opposition als auch aus den eigenen Reihen vorgeworfen, Vorkehrungen ohne demokratisches und kommunales Mitspracherecht zu treffen. Am Dienstag setzte sie deshalb eine parlamentarische Dringlichkeitsdebatte und Abstimmung an, deren Ergebnis aufgrund der absoluten Mehrheit der Konservativen allerdings wenig überraschend ausfallen dürfte.
Zudem rief Johnson die Lokalbehörden auf, von sich aus weitere Einschränkungen zu beschließen, da das gesamte Dreistufensystem nur als Mindestmaß zu verstehen sei, welches allein die Virusverbreitung nicht bremsen könne.
Steve Rotheram, der Labour-Regionalbürgermeister des Großraums Liverpool, beschloss deshalb zusätzlich die Schließung von Wettbüros und Sportzentren und erhielt angeblich deswegen von Finanzminister Rishi Sunak umgerechnet 15,5 Millionen Euro extra zur Verbesserung der Testkapazität der Stadt – neben den im ganzen Land geltenden neuen Garantien für betroffene Geschäftsleute und Arbeitnehmer*innen.
Johnson behauptete, er sei mit betroffenen Lokalbehörden beständig im Gespräch. Rotheram bestätigte in einer eigenen Presseerklärung solche Gespräche. Es sei jedoch von Anfang an klar gewesen, dass die Regierung ihre Entscheidungen mit oder ohne Zustimmung Liverpools durchziehen würde.
Bemerkenswert ist dabei, dass über die ostenglische Stadt Nottingham nur die Stufe zwei verhängt worden ist, obwohl sie die allerhöchste Siebentagesinfektionsrate aufweist: 834 pro 100.000 Menschen.
Labour kritisierte vor allem, dass Johnson Empfehlungen des wissenschaftlichen Krisenstabes SAGE ignoriert habe. In den Empfehlungen dieses Expertengremiums, das die Regierung bei der Coronabekämpfung berät, wurde schon am 21. September aufgrund der rasch steigenden Infektionsraten ein sofortiger, zeitlich befristeter kompletter Lockdown gefordert. Stattdessen führte Johnson in England nur die Sechspersonenregel und die Sperrstunde ein. Veröffentlicht wurde die SAGE-Empfehlung erst im Anschluss an Johnsons Pressekonferenz. (Daniel Zylbersztajn, London)
Grenzverkehr mit Hindernissen in Irland
Die Wahl des Ortes war symbolisch: Irlands Haushaltsplan wurde am Dienstag im Nationalen Kongresszentrum vorgestellt, nicht im Parlament, weil sich die Abgeordneten dort zu nahe kämen. Die Staatsausgaben steigen stark: Aufgrund der Coronakrise haben sich in diesem Jahr 300.000 Menschen arbeitslos gemeldet – bei knapp fünf Millionen Einwohnern.
Die Coronapandemie droht in Irland außer Kontrolle zu geraten. Täglich kommen fast tausend Infizierte hinzu. Dublin und die Grafschaften an der Grenze zu Nordirland sind besonders betroffen. Dort liegt die Siebentagesrate bei durchschnittlich 350 Fällen pro 100.000 Einwohner.
In Nordirland liegt diese Zahl sogar bei 834. Der kleine Grenzverkehr an der offenen inneririschen Grenze treibt die Zahlen in den Grenzgrafschaften der Republik in die Höhe. Irlands Premierminister Micheál Martin hat deshalb seinen britischen Amtskollegen Boris Johnson gebeten, den Haushalt für Nordirland zu erhöhen, damit dort ähnlich scharfe Maßnahmen wie in der Republik ergriffen werden können.
Irland hat einen Fünfstufenplan zur Coronabekämpfung aufgestellt. Anfang voriger Woche empfahl das Nationale Notfallteam für öffentliche Gesundheit, über das gesamte Land die höchste Stufe 5 zu verhängen. Dadurch wäre das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen.
Vizepremierminister Leo Varadkar kritisierte die Wissenschaftler scharf – und verhängte lediglich Stufe 3. Johnson hatte ihn beschworen, auf Stufe 5 zu verzichten, weil Nordirlands Coronapolitik andernfalls noch schlechter dastünde.
Auch bei Stufe 3 sind Familienfeiern verboten, man darf nur Besuch von Personen aus einem Haushalt empfangen, die eigene Grafschaft darf nicht verlassen werden: aus Irland darf man also nicht mehr nach Nordirland, nur umgekehrt.
Polizeikontrollen am nächsten Tag richteten ein Verkehrschaos an. Tausende saßen in ihren Autos fest, Lastwagen verpassten die Fähren nach Großbritannien und Europa, Krankenhauspersonal kam zu spät zur Arbeit, Operationen mussten verschoben werden. Daraufhin fuhr man die Kontrollen wieder zurück.
Am Donnerstag will die Regierung entscheiden, ob die Restriktionen verschärft werden. Bei Stufe 4 darf man Besuch nur noch im Freien empfangen, alle Sportstätten, Kultureinrichtungen, Kneipen und Restaurants werden geschlossen. (Ralf Sotscheck, Dublin)
„Intelligenter Lockdown“ in den Niederlanden
Harte Zeiten für die niederländische Gastronomie: Um die rapide steigenden Corona-Infektionen einzuschränken, müssen Gaststätten zwei Wochen lang schließen. Auch der Mannschaftsbreitensport für Erwachsene liegt vorläufig flach, Alkoholverkauf nach 20 Uhr wird verboten, ebenso Gruppen von mehr als vier Personen. Auch in den eigenen vier Wänden darf man nicht mehr als drei Personen pro Tag empfangen.
Diese Maßnahmen, die ab Mittwochabend gelten, verkündete Premier Mark Rutte offiziell in einer TV-Ansprache am Dienstagabend, doch sie waren zuvor geleakt. Gesundheitsminister Hugo de Jonge hatte die Niederländer zuvor aufgerufen, sich auf neue Restriktionen einzustellen. Erwartet wurde im Vorfeld auch, dass die Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs auf notwendige Situationen beschränkt werden soll.
Damit sind die Niederlande beinahe wieder auf dem Niveau des „intelligenten Lockdown“ von März bis Mai – mit dem Unterschied, dass Schulen und Geschäfte vorläufig nicht betroffen sind. Die bisherigen, erst Ende September beschlossenen Maßnahmen – Beschränkung von Gruppengrößen sowie eine Sperrstunde von 22 Uhr, so wie in Großbritannien – hatten bislang keinen Effekt.
Im Gegenteil: Der Anstieg der Neuinfektionen erreichte beinahe täglich neue Rekordwerte und stieg, Stand Dienstag, auf mehr als 7.300 – mehr als in Deutschland. Vor allem Amsterdam und Rotterdam sind betroffen. 1.410 Covidpatienten liegen im Krankenhaus, 112 mehr als zu Wochenbeginn. Die Föderation Medizinischer Spezialisten (FMS) erwartet ohne Eingreifen der Regierung bis zu 5.000, wodurch bis zu 70 Prozent der regulären Kapazitäten heruntergefahren werden müssten.
Mit den neuen Maßnahmen hofft die Regierung einen neuen kompletten Lockdown zu verhindern. Sie fürchtet dessen wirtschaftliche Folgen, nicht zuletzt weil im März ein neues Parlament gewählt wird.
Gegner der Coronamaßnahmen protestieren auch in den Niederlanden seit Monaten. In den letzten Tagen fanden die Kundgebungen in der Nähe des Parlaments statt. Auch seitens der Gastronomen gibt es starke Kritik an der neuen Verschärfung. Im Parlament genießt diese, zumal in Zeiten akuter Infektionskrise, breite Unterstützung – mit Ausnahme der rechtspopulistischen Parteien, Sprachrohr der „Coronakritiker“. (Tobias Müller, Amsterdam)
Ratlosigkeit in Frankreich
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron wollte ursprünglich die Verantwortung für den Kampf gegen die Coronapandemie der Regierung überlassen und sich selber vermehrt auf die Außenpolitik konzentrieren. Nun aber muss er selber ans Ruder, weil weder der neue Premierminister Jean Castex noch sein Gesundheitsminister Olivier Véran überzeugen.
Die Information, die Maßnahmen zur Prävention und Eindämmung der Epidemie und das ganze Krisenmanagement der Staatsführung stoßen mehr noch als in den Nachbarländern auf Kritik und Misstrauen. In diesem ungünstigen Kontext wird Macron am Mittwochabend als Fernsehgast erwartet. Was kann er an neuen Restriktionen anordnen? Vielleicht ein Ausgehverbot ab 23 Uhr wie in Berlin oder gar einen weitgehenden Lockdown in den Großstädten Paris, Marseille, Lille, Lyon oder Toulouse, wo das Coronavirus derzeit besonders rasch zirkuliert?
Die zweite Welle der Corona-Infektionen hat Frankreich erreicht. Die zunehmende Zahl von positiv Getesteten (bis zu 26.000 pro Tag) bestärkt die Befürchtung, dass in zwei, drei Wochen das französische Gesundheitssystem überfordert sein könnte, wenn wegen des Zustroms von CovidpatientInnen in den Intensivstationen der Krankenhäuser die Plätze für Operationen und andere Notfälle fehlen.
Denn seit März 2020 wurde das sichtlich ungenügende Angebot an Betten in den Intensivstationen für schwere Covidfälle nicht ausgebaut. Frankreich verfügt dazu weiterhin nur über insgesamt 5.000 Betten, während es in Deutschland viermal so viele gibt. Auf Kosten der Versorgung der Bevölkerung und der Attraktivität der Pflegeberufe war massiv gespart worden.
Die Geschichte wiederholt sich: Zuerst gab es keine Schutzmasken, dann zu wenig PCR-Tests, jetzt nicht ausreichend Krankenhausbetten. Außerdem wurde die französische Contact-Tracing-App „StopCovid“ ein Flop: Sie wurde bisher nur 2,6 Millionen Mal runtergeladen (und von rund 1 Millionen Nutzern wieder deinstalliert), doch aufgrund der nur 8.000 gemeldeten Covidfälle konnten nur 472 Kontaktpersonen gewarnt werden. Premier Castex, der zugab, dass er selber die App nicht installiert hatte, verspricht eine verbesserte Version.
Das Coronavirus hat in allen Bereichen die Schwachstellen eines allzu selbstsicheren Systems aufgedeckt. Das Organisationsproblem hat auch eine politische Dimension. In einer ersten Phase wurde alles von der Zentralmacht in Paris entschieden.
Die undifferenzierte Gleichbehandlung von ländlichen und städtischen Regionen mit vielen oder fast gar keinen Covidfällen erregte den Zorn von BürgerInnen, die sich diskriminiert fühlten. Ein typisches Beispiel dafür ist Marseille, wo bei vergleichbaren Zahlen der Epidemie viel einschneidendere Maßnahmen angeordnet wurden als in der Hauptstadt.
In einer zweiten Phase versucht die Staatsführung die Entscheidungen vermehrt zu dezentralisieren und den lokalen Situationen anzupassen. Verantwortlich für die jeweiligen Entscheidungen sind deshalb die Präfekten, eine Art Regierungsstatthalter. Da diese sich aber in vielen Fällen nicht mit den BürgermeisterInnen der betroffenen Städte abgesprochen haben, wird ihre Autorität angezweifelt.
Da auch die Legitimität der „Experten“, die in den wichtigsten Fragen gegensätzliche Meinungen vertreten und entsprechend widersprüchliche Vorschläge machen, infrage gestellt wird, steht Macron jetzt allein und voll verantwortlich in der vordersten Linie. Castex warnte ihn am Dienstag: „Wir werden keine zweite Chance bekommen.“ (Rudolf Balmer, Paris)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs