Corona in Indien: Arme leiden an Lockdown-Folgen

In Indien ist die Zahl der Neuinfektionen zwar zurückgegangen. Doch viele Menschen leiden nun stärker unter Nahrungsmangel als zuvor.

Menschen stehen in einer Schlange bei einer Lebensmittelverteilung

In der Siedlung Adivasi Wadi nahe Mumbai bekommen Be­woh­ne­r:innen Nahrungsmittelhilfen Foto: Natalie Mayroth

KARJAT/MUMBAI taz | „Die meisten waren während des Lockdowns arbeitslos. Wir haben überlebt, weil wir Unterstützung bekommen haben“, sagt Bavi Waghmare. An der Siedlung der Saison-Feldarbeiterin im gelben Sari rauschen wieder Autos vorbei. Sie lebt in der Region Karjat, an einer der meistbefahrenen Autobahnen Indiens, dem Mumbai Pune Expressway. An der Straße liegen Naherholungsgebiete und ein Filmpark. Aber hier leben auch Adivasi, Nachfahren der Ureinwohner, wie Bavi Waghmare. Und deren wirtschaftliches Überleben hängt von der Öffnung des Landes ab.

Anfang Mai waren Indiens tägliche Covid-19-Neuinfektionen auf mehr als 400.000 gestiegen. Fast das ganze Land war im Lockdown. Inzwischen sind die Fälle auf um die 45.000 gesunken. Seitdem in der Folge die Coronarestriktionen gelockert wurden, ist es auf der Strecke des Mumbai Pune Expressway wieder laut. Doch das Problem der Versorgung mit Lebensmittel besteht weiter.

Zwar bekommen die Adivasi hier – wie insgesamt 800 Millionen In­de­r:in­nen – wegen der Pandemie kostenloses Getreide vom Staat. Allein reiche das aber nicht. „Corona hat unseren ganzen Wirtschaftskreislauf ruiniert“, sagt eine andere Frau namens Hilaya, 45. Vor der Pandemie hatten viele im Dorf Gelegenheitsjobs, sie haben im nahen Staudamm gefischt oder im Filmstudio ausgeholfen. Dann folgte erneut ein Stillstand. Seitdem waren die Einkommensverluste groß. Indiens offizielle Arbeitslosenrate stieg im Mai von 8 auf fast 12 Prozent.

Die Entwicklungsökonomen Jean Drèze und Anmol Somanchi bezweifeln, dass die Beschäftigung und Ernährung der Ar­bei­te­r:in­nen im informellen Sektor wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreichen. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen hätten viele Haushalte schon während des ersten Lockdowns weniger gegessen als zuvor. Die staatlichen Hilfen seien zu gering und zu lückenhaft, so Drèze und Somanchi. Es gebe die „ernsthafte Gefahr einer weiteren Welle von starkem Ernährungsmangel“. Mit der Pandemie sei Indiens Ernährungsunsicherheit gewachsen.

In der Siedlung Adivasi Wadi, 60 Kilometer von Mumbai entfernt, ist Dank der Nahrungsmittelhilfen von Organisationen aus der Großstadt zwar der Hunger gebannt. Doch kann diese Hilfe keine langfristige Lösung sein. Es fehlt an Arbeitsplätzen. „Wir können uns nicht einmal die Schulgebühren leisten“, sagt der 20-jährige Yogesh Waghmare.

Vor der Pandemie hatten viele im Dorf Gelegenheitsjobs. Dann kam der Stillstand

Er hat seine Ausbildung abgebrochen. Das College sei zu weit entfernt, es gebe keinen bezahlbaren Transport. Viele Einrichtungen unterrichten weiterhin online, doch Yogesh überfordert die Bürokratie, um ein Stipendium zu beantragen, das ihm als Adivasi zustehen würde. Die Dorfgrundschule muss auch weiter geschlossen bleiben. Nur ein Mädchen aus den knapp 45 Familien hier besucht derzeit die 12. Klasse.

Trotzdem hat das Dorf die Pandemie, die in Indien offiziell mehr als 400.000 Tote gefordert hat, relativ gut überstanden. Auch in der Landeshauptstadt Mumbai kehrt eine gewisse Normalität zurück, wenngleich Handel und Restaurants weiter beschränkt bleiben. Im größten Slum Dharavi ist die Schlange vor dem Impfzentrum lang. „Die Senkung des Alters für kostenlose Impfungen hat geholfen“, sagt der leitende Arzt Asif Shaikh. Der 27-Jährige kennt die Warnungen vor der dritten Welle. „Deshalb versuchen wir so viele Menschen wie möglich davor zu impfen.“

Sorgen bereiten die Berichte über die neue Coronamutation Delta plus (B.1.617.2.1). Sie geht aus der Deltavariante hervor, die in Indien für die verheerende zweite Welle verantwortlich war und besitzt eine zusätzliche Mutation – K417N. Diese wurde in der Betavariante gefunden, die für einen massiven der Anstieg der Infektionen in Südafrika sorgte. Da derzeit erst gut 60 Delta-plus-Fälle bekannt sind, ist die Angst davor noch gering.

Indien legt beim Impfen nach

Derweil legt Indien beim Impfen nach. 296 Millionen Menschen (21 Prozent) haben die erste Dosis und 69 Millionen (5 Prozent) die zweite erhalten. Ex­per­t:in­nen hoffen, dass eine dritte Welle geringer ausfällt, da sich viele Menschen bei der vorherigen bereits angesteckt hatten. Der Mathematiker Manindra Agarwal berechnete, dass ihr Höhepunkt im Oktober und November folgen könnte.

Für die Menschen in der Adivasi-Siedlung sind solche Modelle weit weg. Sie spüren aber die Last der steigenden Preise für Benzin und Kochgas. Yogesh Waghmare ist pragmatisch. Wenn er nicht studieren kann, möchte er wenigstens Geld verdienen. Die Organisationen, die dem Dorf Nahrungsmittel zukommen ließen, besorgten auf Wunsch mehrere Holzkarren. Auf einem davon möchte er nun Obst und Gemüse verkaufen.

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