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Corona in ÄgyptenWie eine Zwölfjährige Schule macht

Homeschooling per Computer ist für viele Familien unmöglich. In Ägypten nimmt ein Dorfmädchen die Sache einfach selbst in die Hand.

Selbstlose Hilfe: Reem El-Khoury unterrichtet Kinder in ihrem Heimatdorf Itmiah Foto: Karim El-Gawhary

Itmiah taz | Friedlich kauen zwei Wasserbüffel ihr Heu wieder. Etwas gelangweilt blicken sie auf die gegenüberliegende Dorfschule in Itmiah, einem kleinen Ort im ägyptischen Nildelta, zwei Autostunden von Kairo entfernt. Viel ist nicht los: Die Schule ist wie alle Schulen des Landes seit Anfang des Jahres wegen der Coronpandemie geschlossen. Statt des üblichen Geschreis der Kinder hüllt sich das dreistöckige Gebäude in Schweigen. Nur das Flattern der ägyptischen Fahne im Wind ist zu hören.

Klagen viele Eltern in Deutschland über die Mühseligkeiten des Online-Homeschoolings in Coronazeiten und die Folgen für Familien und Kinder, bedeutet die Pandemie in andern Teilen dieser Welt einen Totalausfall des Unterrichts. Nach Schätzungen des ägyptischen Kommunikationsministeriums haben 52 Prozent der Bevölkerung keinen Internetanschluss.

Auch in Itmiah kennt kaum ein Kind den Luxus eines eigenen Computers. Für die Kinder hier, wie für die meisten anderen der 19 Millionen Schüler im staatlichen Schulsystem Ägyptens, bedeutet die Schließung ihrer Schule die ersatzlose Streichung des Unterrichts.

Wäre da nicht Reem El-Khou­ry. Sie ist so etwas wie die Heldin im ägyptischen Bildungsalltag – eine sehr junge Heldin: Reem ist zwölf Jahre alt. Jeden Morgen bringt sie ihre Tafel an der unverputzten Zie­gel­außenwand ihres bescheidenen Hauses an. Dann breitet sie auf der Dorfgasse eine große Matte aus, die in den nächsten Stunden als Klassenzimmer fungieren wird.

Alles ist bereit für die erste Unterrichtsstunde des Tages für die Kinder aus der Nachbarschaft. Heute kommt ein gutes Dutzend Kinder zusammen, setzt sich auf die Matte und breitet Schulbücher und Hefte aus, alle in angemessenem Corona-Abstand und wie Reem mit einer Gesichtsmaske vor Mund und Nase.

Reem will Mathelehrerin werden

Reem in Jeans, in ihrer cremefarbenen Bluse mit langen weiten Ärmeln und ihrem weinroten Kopftuch sieht schon etwas aus wie eine echte ägyptische Lehrerin. Sie unterrichtet Kinder bis zu neun Jahren in den Fächern Arabisch, Mathe, Englisch und Religion. Aus einem ursprünglichen Spiel hat sich ein Ersatz für den verlorenen Unterricht entwickelt. „Als Corona anfing, haben die Kinder im Dorf den ganzen Tag auf der Straße gespielt. Ich habe gedacht, dass es besser ist, wenn ich sie unterrichte“, erzählt sie. „Wir haben mit unseren Schulbüchern und Heften angefangen. Dann hat mir jemand im Dorf die Tafel gestiftet.“

Jeden Morgen gibt Reem vor ihrem Haus Unterricht, dann lernt sie ihren eigenen Stoff zu Hause, um fit zu bleiben für den Zeitpunkt, wenn die Schule wieder aufmacht. Abends bereitet sie dann die nächste Lektion für die anderen Kinder vor. So beschreibt sie ihren Tag. Reem hat eine natürliche Autorität; alle Kinder hören ihr aufmerksam zu und wollen sie mit ihren Antworten beeindrucken. „Reem hat gesagt, kommt, lass uns etwas Neues spielen. Wir haben Hefte und Stifte gebracht und haben angefangen zu schrei­ben“, sagt der achtjährige Muhammad, der ganz vorne auf der Matte sitzt und eifrig mitschreibt.

Den Unterricht führt Reem genauso, wie sie es aus ihrer eigenen Dorfschule kennt. Sie schreibt ein Wort auf Arabisch und Englisch langsam auf die Tafel und vergewissert sich noch einmal in ihrem Schulbuch, dass alles seine Richtigkeit hat. Dann deutet sie auf die Tafel und ruft kitab, das arabische Wort für Buch, yaani, das heißt, und schließlich book. Aus einem Dutzend kleiner Münder wird das laut wiederholt: „Kitab yaani book“ (Buch heißt book), gefolgt von einem „assad yaani lion“ (Löwe heißt lion). Aber Reems eigentliche Leidenschaft ist Mathematik. Sie will später einmal Mathelehrerin werden, sagt sie.

Wann macht die richtige Schule wieder auf?

Stolz auf die Errungenschaft des Dorfes schauen auch einige Mütter beim Unterricht zu. Auch Reems Lehrerin aus der Dorfschule ist dabei. „Reem war in der Schule immer sehr klug und machte aufmerksam mit. Dann kam Corona. Am Anfang dachte ich, die spielen nur, dann habe ich aber gesehen, dass meine Tochter bei Reems Unterricht besser aufpasst, als wenn ich sie zu Hause unterrichte“, schildert Schaima Abdallah. Wann die richtige Schule wieder öffnet, kann sie nicht sagen: „Wir warten auf eine Entscheidung der Schulbehörden.“

Reem hat unterdessen eine Pause ausgerufen und wandelt sich in der gleichen Sekunde wieder von einer Lehrerin zum Kind, als sie mit ihren Schülern und Schülerinnen durch die Dorfgassen tobt und Fangen spielt. Nach einer halben Stunde ist die Unterrichtspause vorbei. Begeistert laufen ihre Schüler zurück zur Unterrichtsmatte, springen und purzeln über ihre Bücher und Hefte, um wieder auf der Matte in der Dorfgasse Platz zu nehmen. Es gibt wohl wenige Orte auf der Welt, an denen die Schüler nach der Pause wieder so enthusiastisch zum Unterricht zurückkehren.

Dann wird es still. Nur das Schreien eines Esels ein paar Gassen weiter ist zu hören, der sich offensichtlich weigert, seinen Karren weiter durchs Dorf zu ziehen. Die Kinder warten auf die Fortsetzung des Unterrichts ihrer jungen Lehrerin, die in ihrem Dorf im Nildelta mit ihren bescheidenen Mitteln jeden Tag aufs Neue an der Coronafront in Ägypten einen klitzekleinen Bildungssieg feiert.

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3 Kommentare

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  • Es zeigt sich mal wieder, dass schon recht junge Menschen in der Lage sind verantwortungsvoll das Leben zu organisieren. Und es fragt sich, warum heute an der Uni die Studis wie Kinder behandelt werden? Eine bekannte, die an der Uni lehrt meint, es läge an den Studis, die sich unselbstständig verhalten. Nach meinem Eindruck liegt es aber am Lehrpersonal. Eine Folge der Verschulung durch Einführung des Bachelor-Studiengangs? Oder der Abschaffung dies Zivi Dienst? Oder ist‘s der Zeitgeist?

  • Vielen Dank für diesen positiven Artikel!



    Mit Mut und Phantasie lässt sich so viel erreichen!

  • Klasse! Das Mädchen hat etwas längst begriffen, womit sich woanders die meisten noch furchtbar schwer tun: Was man nicht selbst in die Hand nimmt, bleibt ewig ungetan liegen.