Corona-Pandemieverordnung läuft aus: Kein Modell für Berlin
Eigenverantwortung statt staatlicher Regeln soll nun vor Corona schützen. In der Hauptstadt der Individualisten ist das keine gute Idee.
Z um 1. April ist Corona also abgeschafft. Nicht medizinisch oder virologisch, sondern quasi per Dekret als gefährliche Krankheit, gegen die der Staat seine Bevölkerung schützt. Masken sollen allenfalls – und je nach letzten Absprachen zwischen der Bundesebene und den Ländern – nur noch in Bus und Bahn sowie in Krankenhäusern und Pflegeheimen vorgeschrieben sein. Eigenverantwortlich soll sich jeder und jede schützen.
Das klingt erst mal sinnig, denn wer sich selbst mit Maske und Abstand schützt, der oder die schützt dadurch auch andere.
Die Sache ist bloß: Der oder die andere sieht das vielleicht ganz anders, trägt nicht freiwillig im Supermarkt eine Maske, rückt einem an der Kasse strafbefreit auf die Pelle und lacht vielleicht noch über das ängstliche Wegrücken der anderen.
Manifestiert sich in dieser Annahme ein zu pessimistisches Menschenbild? Wohl kaum. Zumindest nicht in einer Stadt wie Berlin, in der Rücksichtnahme und Freundlichkeit nicht zu den hervorstechenden Eigenschaften gehören. Daran ändert auch das derzeit viel beschriebene große Engagement in der Flüchtlingshilfe nichts: Die Tausende, die sich da engagieren, sind nicht „ganz Berlin“ – gemessen an den fast vier Millionen Einwohnern bewegt sich ihre Zahl im Promillebereich.
Wenig Nachdenken über die Folgen
Berliner Alltag ist eben oft nicht, sich über die Folgen des eigenen Handelns Gedanken zu machen. Vom banalen Die-ganze-S-Bahn-mit-lautstarkem-Telefonieren-Erfüllen über ungezählte Müllhinterlassenschaften in öffentlichen Parks bis hin zu viel Weggucken und Augen-zu-machen: Das ist nicht gerade die ideale Ausgangslage für ein Corona-Vemeidungs-Szenario, das auf dem Motto beruhen soll: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg' auch keinem andern zu“.
Wer nun sagt, jeder und jede könne ja gerne Maske tragen, das sei ja frei gestellt, und alleine das schütze ja schon sehr, darf sich gern fragen: Und dann hänselt – oder neudeutsch disst – auch niemand in der Klasse jene Mitschüler, die weiter Maske tragen? Und im vermeintlichen Freundes- oder auch nur Bekanntenkreis gibt es keinen Druck, sich jetzt mal vermeintlich locker zu machen und „das Ding da“ abzunehmen, damit es richtig gemütlich werden könne?
Das könnte man und frau vielleicht alles noch unter Umstellungschwierigkeiten verbuchen, wären da nicht die erneut stark ansteigenden Ansteckungszahlen. Es war schon sehr irritierend, die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) am Dienstag nach der Senatssitzung von einer „positiven Tendenz“ und sinkenden Ansteckungszahlen reden zu hören. Dabei war die zwischenzeitlich tatsächlich auf 782 gesunkene 7-Tage-Inzidenz just seit dem Vortag wieder sprunghaft um 100 gestiegen und kletterte bis Freitag weiter auf einen Stand auf annähernd 1.200.
Das Risiko für Vorerkrankte steigt
So viele Menschen wie noch nie erkranken derzeit im persönlichen Umfeld und am Arbeitsplatz. Die Quote positiver PCR-Tests ist so hoch wie nie zuvor. In der Regel beschränken sich die Folgen auf das oft gehörte „hab' völlig flach gelegen“ – doch bei Älteren und Vorerkrankten kann das ganz anders aussehen. Für sie ist ab April jeder Gang in einen Supermarkt oder ein sonstiges Geschäft deutlich risikoreicher als bisher.
Wäre es ein so großes Opfer für unsere aktuell etwa mit Blick auf Sprache so sensible Gesellschaft gewesen, sich zumindest für die Viertelstunde im Einkaufsladen weiterhin Maskenpflicht zu verordnen? Zumindest, solange die Inzidenzen in gegenwärtiger Höhe sind? Offenbar schon.
Zu groß wirkt der Druck durch jene, die nach „Freiheit“ rufen – so groß, dass sich Regierungschefin Giffey in der Pressekonferenz am Dienstag schier genötigt sah zu rechtfertigen, dass Berlin Maskenpflicht, Abstand etc. dank einer Übergangsregel überhaupt um zwei Wochen verlängert und nicht schon zum 20. März auslaufen lässt.
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