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Corona-Forscher über umstrittene Heinsberg-Studie„Erstmals vernünftige Schätzgrößen“

Die Daten seiner Studie sind nicht repräsentativ für Deutschland, sagt Gunther Hartmann. Aber sie erlauben Schätzungen zur Zahl tatsächlich Infizierter andernorts.

Gunther Hartmann: „Gangelt ist ideal geeignet, um die Letalität zu bestimmen“ Foto: dpa
Heike Haarhoff
Interview von Heike Haarhoff

taz: Herr Hartmann, bei der Präsentation der Zwischenergebnisse Ihrer Studie zur Verbreitung des Coronavirus in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg haben Sie betont, die Daten seien repräsentativ für Gangelt – aber leider nicht für andere Regionen. Warum betreibt man einen solchen Untersuchungsaufwand, wenn sich aus den Daten am Ende so gar keine Rückschlüsse zur allgemeinen Übertragbarkeit des Virus ziehen lassen?

Gunther Hartmann: Es ist wichtig, zunächst eine Sache zu verstehen: Gangelt hatte einen „super spreading event“ – die Karnevalssitzung – und somit einen hohen Anteil an Infizierten. Dort wurde von Anfang an intensiv getestet.

Intensiver als in anderen Regionen?

Ja, und deshalb war bekannt, dass dort viele Infizierte sind. Gangelt ist insofern ideal geeignet, um die Letalität, also tödliche Verläufe in Relation zu allen Infizierten, zu bestimmen. Dazu braucht man in einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung die Information, wie viele Personen sich infiziert haben. Da aber viele Infektionen asymptomatisch, also unbemerkt oder milde verlaufen, war diese Zahl bislang nicht bekannt.

Jetzt ist sie bekannt, aber leider nur für Gangelt.

Mit der Antikörpertestung, die wir durchgeführt haben, indem wir Blutproben von 1.000 Menschen in etwa 400 Haushalten untersucht haben, kann man diese Zahl bestimmen. Das sind in Gangelt 14 Prozent. Dazu kommt 1 Prozent, für den der PCR-Test, der Rachenabstrichtest, positiv war, das sind also akut Infizierte, die noch keine Antikörper aufweisen. Nun kann man die in Gangelt am Coronavirus Verstorbenen in Bezug setzen zu den 15 Prozent Infizierten. Daraus ergibt sich die Letalität von 0,37 Prozent.

Aber was sagt uns das?

Im Interview: Gunther Hartmann

ist Direktor des Instituts für Klinische Chemie und Pharmakologie am Universitätsklinikum Bonn. Er gehört zum Forscherteam um den Studienleiter und Virologen Hendrik Streeck, das am Gründonnerstag erste Zwischenergebnisse zur Verbreitung des Coronavirus im nordrhein-westfälischen Gangelt und zur Immunitätsrate der dortigen Bevölkerung präsentierte.

Interessant ist, dass vor Beginn unserer Studie in Gangelt nur etwa 2,4 Prozent Infizierte bekannt waren. Die Dunkelziffer liegt also – ohne Verstorbene – bei 15:2,4 = 6,25, sie liegt 6,25-fach über der bisher bekannten Zahl der Infizierten. Wenn man nun davon ausgeht, dass die Letalität der Erkrankung bei ähnlichen Bedingungen, also einem super spreading event, einer ähnlichen Bevölkerungszusammensetzung, einer ähnlichen medizinischen Versorgung sowie ähnlichen gesundheitspolitischen Maßnahmen auch an anderen Orten in dieser Größenordnung liegt, so kann man aus den CoV-2-assoziierten Todesfällen auf die tatsächliche Zahl der Infizierten hochrechnen. Und das ist das Neue: Erstmals konnte die Letalität von CoV-2 in einer Beispielgemeinde bestimmt werden.

Sie können die Gesamtzahl der Infizierten valide abschätzen?

Ja. Die Erhebung dieser Zahl wird derzeit weltweit gefordert, hier wurde sie für eine Beispielgemeinde erbracht. Mit dieser Gesamtzahl kann nun erstmals die Letalität in dieser Beispielgemeinde abgeschätzt werden. Gesamtzahl und Letalität für Gangelt sind wissenschaftlich valide Daten.

Okay, aber meine Eingangsfrage war: Was heißt das für Deutschland?

Die Gesamtzahl von 14 Prozent Infizierten in Gangelt kann man natürlich nicht auf Deutschland übertragen, denn die Zahl der Infizierten unterscheidet sich von Ort zu Ort und Land zu Land. Demgegenüber kann man mit der errechneten Letalität der Erkrankung aber sehr viel bessere Schätzungen für die Zahl tatsächlich Infizierter an anderen Orten in Deutschland machen. Für Gangelt haben wir also verlässliche Zahlen, für Deutschland erstmals vernünftige Schätzgrößen. Anhand der Letalität kann nun erstmals eine Abschätzung der Auswirkungen der Coronapandemie insgesamt erfolgen.

Welcher Vorteil ergibt sich daraus?

Ganz einfach. Man kann rechnen und abwägen.

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12 Kommentare

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  • Es ist sicher eine wichtige Studie, aber es bräuchte viele Studien, um verläßliche Aussagen zu machen. Was ich nicht verstehe ist, selbst wenn 15% immun sein sollen, wie man dann zu einer Herdenimmunität (HI) kommen will, ohne Impfung, zu der es 60 bis 70% der Bevölkerung braucht, also mindestens 50 Millionen. Bei jetzt ein paar Tausend neuen Fällen pro Tag dürfte es jahrzehntelang dauern, wenn es innerhalb von ein paar Monaten sein soll, dann dürften die Klinikkapazitäten nie reichen und die Mortalität in die zehntausende, wenn nicht hunderttausende gehen. Ich lass mir jetzt ja vieles gefallen, aber nur für ein paar Wochen, aber extra anstecken lassen werde ich mich sicher nicht, um im dann noch am Experiment HI teilzunehmen. Ein Virologe behauptete sogar (im TV), das dann das Virus aus der Population verschwindet, was grober Unsinn sein dürfte. Die WHO bemüht sich seit Jahrzehnten darum, bestimmte Krankheiten global auszurotten, es gelingt nur selten. Bei einer Immunität von ein bis zwei Jahren, sind die ersten schon wieder krank, wenn die letzten noch in der Phase sind, sich anzustecken. Bei Masern sollen 95% nicht reichen für eine HI, warum dann bei Corona „nur“ 60 bis 70%. Statt von einer HI zu träumen, ein Albtraum, sollte man jetzt brauchbare Exitstrategien vorlegen für die Zeit bis ein Impfstoff da ist. Wie lange hält der dann, vermutlich so lange wie die Grippeimpfung ?

    • 6G
      64836 (Profil gelöscht)
      @Geli75:

      Wenn wir jetzt schon 15% Durchsuchung haben, und die Intensivbetten sind nur zu einen geringen Prozentsatz mit Covid19 Infizierten belegt, scheint ein Szenario in dem man das ganze laufen lässt und wir in der ersten Saison ohne das Überlaufen der Intensivstation (siehe www.divi.de/images...ort_2020_04_15.pdf ) schon auf 40% Immunität kommen, nicht widerlegt.



      Es gilt einfach, hier viiieel mehr Daten zu bekommen, also bitte viiieeel mehr Studien dieser Art, die kosten im Vergleich zu den angeordneten Maßnahmen wirklich nur Peanuts.

  • Ich habe die Karte vom Robert-Koch-Institut mit den Coronainfinzierten/100.000 Einwohner (experience.arcgis....f1d4/page/page_1/) mit der Karte der zdf-Studie "Wo lebt es sich am besten" (deutschland-studie...ict/09162/default) verglichen. Die haben eine erhebliche Übereinstimmung.



    Da, wo es sich (lt. zdf) am besten lebt, besteht die höchste Infektionsrate.



    Bremerhaven, wo es sich (lt. zdf) schlecht lebt, hat eine sehr geringe Infektionsrate.



    Wie kann man das jetzt interpretieren?

    • @weidedammer:

      Die zwei wichtigsten Parameter wären Bevölkerungsdichte und Reisefreudigkeit/Tourismus. Suchen Sie sich aus was besser passt.

  • Repräsentativ?

    1000 Menschen in etwa 400 Haushalten an nur einem Ort würden in einer Meinungsumfrage keineswegs als repräsentativ gelten, sondern sind ziemlich weit davon entfernt.

    (Mal abgesehen von der Messmethode des Antikörpertests, die allenfalls sehr grobe Näherungswerte - vor dem Komma, 2-stellig - zulässt.)

    Wenn diese Medizinstatistiker ihre eigenen Zahlen mit mehr Vorsicht und Skepsis behandelten - wie es sonst in der Wissenschaft üblich ist oder sein sollte! -, wären sie glaubwürdiger.

    Marktschreierei und autoritäre Verkündigungen in den Medien haben wir gegenwärtig schon viel zu viele!

  • Hartmann hat 3 Tage zuvor auf der Pressekonferenz die Zahl vor der Studie positive getesteter auf 5% angegeben. In Ihrem Artikel geht er jetzt von 2,4% aus und verdoppelt so schnell mal den Dunkelzifferfaktor. Seriös scheint mir das nicht. Hier seine Äußerung auf der Pressekonferenz:



    www.youtube.com/wa...VnrHamW8OXQ&t=2093



    Ich würde mir wünschen, dass der taz-Redaktion solche Ungereimtheiten auffallen und nachgehakt wird.

  • @Dorian Müller



    Bei der Vorstellung der Zwischenergebnisse der Studie hieß es, dass die Forscher mögliche falsch-positive Testergebnisse berücksichtigt hätten. Nach anderen Berechnungsformeln hätte man auch auf einen Wert von 20% SARS-CoV-2-immunen erhalten können. Sie hätten sich jedoch für die vorsichtigere Schätzung von 15% entschieden. Es ist also nicht so, dass diese Frage ganz ausgeblendet wurde. Aber die Zuverlässigkeit des Antikörper-Tests ist natürlich der springende Punkt, und hier würde man auch als Nicht-Spezialist gerne mehr erfahren.

  • Bevor man Fragen stellt, liebe taz, vielleicht erst mal etwas wie Folgendes lesen:



    www.mittellaendisc...en-entscheidungen/

  • Die entscheidende Frage wurde nicht gestellt: Wie sicher kann man sein, dass der brandneue Antikörpertest auch nur bei Covid19 anschlägt und nicht auch bei gewöhnlichen Grippen? Bislang gab bzw. gibt es ja weltweit keinen wirklich solide funktionierenden Antikörpertest. Wenn von den 15% Positiven die Hälfte positiv auf gewöhnliche Grippe getestet wurde, ist die Letalität in Heinsberg plötzlich doppelt so groß wie behauptet.

    • 6G
      64836 (Profil gelöscht)
      @Dorian Müller:

      Beim PCR Test ist bekannt, wie unzuverlässig er ist, also sowohl False Positives und False Negatives produziert. Streeck & Co waren vorsichtig und haben einen sehr gut verifizierten Test (99+%) verwendet, deutlich aussagekräftiger als die gängigen PCR Tests.

    • @Dorian Müller:

      daran werden die Forscher nicht gedacht haben... guter Tipp!

      Und das nächste mal bitte erst mal nachdenken!

  • Wenn man die Zahlen einfach so nüchtern und unaufgeregt präsentiert hätte, wäre deutlich weniger Kritik aufgekommen. Interessante Infos, die vielleicht weiterhelfen können.

    Aber die teilnehmende Personen mussten ja das ganze auch mit Handlungsempfehlungen an die Politik und ihrem Spin unterlegen - ganz wie von Laschet gewünscht.