Clara Bünger über Krise der Linken: „Das war ein schleichender Prozess“
Die Linkspartei steht vor einem personellen Neuanfang. Kann die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger dabei helfen, den Teufelskreis zu durchbrechen?
taz: Frau Bünger, Jan van Aken und Ines Schwerdtner haben als Erste ihre Bewerbungen für den Linken-Vorsitz eingereicht. Sie werden als eine mögliche weitere Kandidatin gehandelt. Haben Sie sich schon entschieden, ob Sie antreten wollen?
Clara Bünger: Mich haben viele Nachrichten mit der Bitte erreicht, für den Vorsitz zu kandidieren. Dass etliche Menschen innerhalb, aber auch außerhalb der Partei offenkundig mir das Amt zutrauen, freut mich natürlich. Ich empfinde das als eine Anerkennung meiner Arbeit. Gleichwohl habe ich mich anders entschieden: Ich werde nicht als Parteivorsitzende kandidieren, sondern mich weiter auf meine Arbeit als Abgeordnete im Bundestag konzentrieren. Wer mich kennt, weiß, dass ich gerne Dinge immer zu 100 Prozent mache. Und beides zusammen könnte ich nicht zu 100 Prozent machen.
taz: Reizt Sie die Aufgabe nicht oder glauben Sie, dass es sich ohnehin nicht mehr lohnt?
Clara Bünger: Beides trifft nicht zu. Der Rechtsruck in unserem Land ist enorm. Da braucht es aus meiner Sicht eine starke, laute linke Stimme im Bundestag. Das ist gerade jetzt besonders wichtig. Dazu will ich mit aller Kraft beitragen. Für die Zukunft möchte ich gar nicht ausschließen, mir auch die Übernahme des Parteivorsitzes vorstellen zu können. Aber aktuell sehe ich dort nicht meinen Platz. Es braucht in dieser Position jetzt Menschen, die sich voll und ganz auf die Parteiarbeit konzentrieren. Dass sich Jan und Ines dazu bereit erklärt haben, begrüße ich. Wer auch immer letztlich auf dem Parteitag im Oktober gewählt wird, steht vor einer großen Aufgabe. Dafür ist die ganze Unterstützung der Bundestagsgruppe nötig. Dabei will ich mithelfen. Wir befinden uns in einem Moment des Übergangs, der nicht einfach ist, aber auch eine Chance sein kann.
Geboren 1986 im niedersächsischen Oldenburg, wuchs sie im sächsischen Freiberg auf. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Leipzig arbeitete sie in einer Kanzlei in Israel im Bereich Holocaustentschädigung und Ghettorenten. Anschließend war sie als Koordinatorin der Rechtsberatung für die Refugee Law Clinics Deutschland auf Chios aktiv. 2005 in die PDS eingetreten, zog die Rechtanwältin 2022 als Nachrückerin für Katja Kipping für die Linke in den Bundestag ein.
taz: Verstehe ich Sie richtig, dass auch Sie den Wechsel an der Parteispitze jetzt für nötig halten?
Clara Bünger: Als erst Janine Wissler und dann Martin Schirdewan an die Spitze getreten sind, befand sich Die Linke bereits in einer ungeheuer schwierigen Krisensituation, auch wenn das vielleicht noch nicht allen bewusst war. Dass sie eine Abspaltung bewältigen mussten, damit haben nicht nur sie nicht gerechnet. Manche haben das ja bis kurz vor der offiziellen Verkündung noch nicht wahrhaben wollen, was mit zu unserem jetzigen Zustand beigetragen hat. Ich bin den beiden jedenfalls sehr dankbar, dass sie wirklich versucht haben, ihr Bestes zu geben. Sie haben für unsere Werte und Überzeugungen gekämpft. Ihre Entscheidung, nun nicht mehr anzutreten, sondern den Weg für einen personellen Neuanfang freizumachen, respektiere ich. Deswegen blicke ich jetzt in die Zukunft und auf die Herausforderungen, die anstehen.
taz: Wie schon die Bundestagsfraktion gilt auch die jetzige Bundestagsgruppe nicht gerade als ein Hort der Harmonie. Könnte sie aus Ihrer Sicht denn überhaupt noch eine Rolle bei dem Versuch spielen, einen Ausweg aus der Krise zu finden?
Clara Bünger: Ich hoffe zumindest, dass inzwischen alle begriffen haben, dass das unsere Aufgabe ist. Denn dafür ist die gesellschaftliche Situation zu ernst. Wir Abgeordneten müssen unseren Beitrag dazu leisten, dass Die Linke wieder eine Perspektive hat. Anders kann es nicht gehen. Unsere Gemeinsamkeiten müssen in den Vordergrund gerückt werden, also der gemeinsame Kampf für eine solidarische und gerechtere Gesellschaft.
taz: Mit 19 Jahren sind Sie 2005 in die sächsische PDS eingetreten, die damals bei den Landtagswahlen noch auf über 20 Prozent kam. Jetzt liegt die Linke in den Umfragen zwischen 3 und 5 Prozent und muss um den Einzug ins Parlament bangen. Wie erklären Sie sich diesen Niedergang?
Clara Bünger: Dafür gibt es nicht nur eine Erklärung. Das war ein langer schleichender Prozess, der aber viel mit der dramatischen gesellschaftlichen Situation in Sachsen jenseits der wenigen Großstädte zu tun hat. Das macht es auch so schwierig.
taz: Was meinen Sie damit?
Clara Bünger: Dafür muss ich ein bisschen ausholen. Ich bin in Freiberg aufgewachsen, das ist eine kleine Stadt zwischen Dresden und Chemnitz. Anfang der 2000er Jahre habe ich dort eine Jugendinitiative mit aufgebaut, „Buntes Leben“ hieß die. Das war eine Reaktion darauf, dass rechtsextreme und neonazistische Gruppen immer mehr Zulauf bekamen. Schon damals war die NPD bei den Unter-18-Jährigen die beliebteste Partei, heute ist es die AfD.
Wir haben zum Beispiel Mahnwachen in Gränitz organisiert, wo der frühere NPD-Bundesvorsitzende Günter Deckert ein Dorfgasthaus ersteigert hatte, um daraus einen Nazi-Treffpunkt zu machen. Wir haben Flugblätter gedruckt und verteilt, ein Frühlingsfest organisiert, alles Mögliche gemacht. Wir haben uns für Geflüchtete eingesetzt, die angegriffen wurden, ebenso aber auch für Rentnerinnen und Rentner, die entmietet werden sollten. Und die einzige Partei, die dabei vor Ort wirklich an unserer Seite stand, war die PDS.
taz: Wäre das heute nicht mehr so?
Clara Bünger: Selbstverständlich wäre das immer noch so. Ich will auf etwas anderes hinaus: Der Druck auf zivilgesellschaftliches Engagement ist in solchen Gegenden seit langem enorm groß. Wer öffentlich in Erscheinung tritt, gerät schnell ins Visier rechter Schlägerbanden. Wie gefährlich das ist, habe ich damals selber am eigenen Leib zu spüren bekommen. Die haben mein Gesicht auf Flyer gedruckt, um mich einzuschüchtern. Und bei einem Angriff haben mir rechte Jugendliche den Kiefer gebrochen. In einer Situation aber, wo ich Angst haben muss, auf die Straßen zu gehen, braucht es Mut, sich demokratisch zu engagieren.
Das ist fatal, doch eine ganz normale Realität für viele Menschen im ländlichen Raum in Sachsen, mit Sicherheit auch in anderen Regionen in Ostdeutschland. Was ist die Folge davon? Als ich als junger Mensch in die Partei eingetreten bin, war der Altersdurchschnitt bereits relativ hoch. Es gibt ein Nachwuchsproblem, das nicht zuletzt daraus resultiert, dass jüngere linksdenkende oder sozial engagierte Menschen wegziehen, sobald sie es können. Das ist auch sehr gut verständlich, aber macht es für die Verbliebenen noch schwerer. Die alten Antifaschistinnen und Antifaschisten werden leider naturbedingt immer weniger und zu wenige Junge kommen nach.
taz: Das ist ein Teufelskreis.
Clara Bünger: Ja, und der muss unbedingt durchbrochen werden. Sonst ist der Kampf gegen die rechte Hegemonie verloren. Dafür ist es jedoch ungemein wichtig, dass Die Linke überlebt. Sie ist vielerorts doch eine der letzten Anlaufstellen, die noch sichere Räume zur Verfügung stellt, in denen sich Menschen, die sich vor Ort sich engagieren, treffen können. Ich habe meinen Wahlkreis im Erzgebirge, mein Wahlkreisbüro ist in Aue. Die Linke ist eine der wenigen Parteien, die dort überhaupt noch vor Ort ist. Es gilt darum zu kämpfen, dass das so bleibt.
Wir dürfen, die Menschen, die sich dem bedrohlichen rechten Zeitgeist widersetzen, nicht alleine lassen. Ich kann sehr gut verstehen, dass alle Menschen, die in den letzten Monaten gegen Rechts und für Demokratie auf die Straße gegangen sind, von der Regierung enttäuscht sind, dass bisher keine einzige Maßnahme auf die größten Proteste seit Bestehen der Bundesrepublik gefolgt ist. Nicht mal das Demokratiefördergesetz, eine einfache Maßnahme, die man längst hätte umsetzen können.
taz: Ihre Partei kämpft in Sachsen um die Fünfprozenthürde, das BSW kann sich auf ein zweistelliges Ergebnis freuen. Was macht es besser als die Linke?
Clara Bünger: Ob bei der Europawahl oder jetzt bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg: Das BSW konzentriert seinen Wahlkampf vollständig auf seine Namensgeberin, obwohl die gar nicht zur Wahl steht. Das scheint zu funktionieren, weil Sahra Wagenknecht mit ihren schlichten Parolen für viele eine Projektionsfläche ist, bei der es auf den Rest nicht ankommt. Das mag eine Zeitlang an der Wahlurne erfolgreich sein. Aber das Schüren von Ressentiments kann kein Vorbild sein und die einfachen Antworten sind häufig nicht die richtigen.
taz: Was wären denn die richtigen Antworten?
Clara Bünger: Erfolgreiche Politik bemisst sich für mich daran, ob sie dazu führen kann, dass sich für die Menschen etwas zum Positiven entwickelt. Nach unten zu treten und denjenigen, die nichts haben, noch was wegnehmen zu wollen, gehört nicht dazu. Der Geflüchtete, der vor zwei Monaten nach Deutschland gekommen ist, ist nicht dafür verantwortlich, dass die Kommunen seit 30 Jahren kaputtgespart werden, dass es in einem Ort keine Turnhalle und kein Schwimmbad mehr gibt, Kitas und Schulen geschlossen werden.
Eine Bürgergeldempfängerin ist nicht schuld daran, dass das nächste Krankenhaus kilometerweit entfernt ist und es inzwischen bisweilen sogar an einem Rettungsdienst fehlt, der rechtzeitig bei einem Notfall sein kann. Sie zu drangsalieren, verändert nichts zum Guten, weil sie die falschen Adressaten sind. Tatsächlich liegt die finanzielle Ausblutung der Kommunen an einer falschen politischen Prioritätensetzung. Verantwortlich dafür ist eine CDU-Regierung, die bewusst diese Entscheidungen getroffen hat. Wir hingegen wollen die Lebensbedingungen für die Menschen verbessern, das heißt, wir schauen nach oben. Wir stellen die Verteilungsfrage, wie sich das gehört, von oben nach unten. Das Problem sind die kapitalistischen Verhältnisse. Die Linke ist die einzige Partei, die im Bundestag Vorschläge macht, die nicht darauf beruhen, das Menschen gegeneinander ausgespielt werden.
taz: Offenkundig haben Sie da Überzeugungsprobleme.
Clara Bünger: Nun ja, gegen Schwächere zu treten ist einfacher als sich mit Stärkeren anzulegen. Aber mich widert dieser Inhumanitätswettbewerb an, in dem sich die anderen Parteien gerade überbieten. Niemand flieht aus Spaß aus seiner Heimat. Mehr als zwei Drittel der Menschen, die nach Deutschland kommen, fliehen aus Kriegsgebieten und haben deshalb völlig zurecht einen Schutzanspruch. Diese Menschen zu Sündenböcken zu machen, ist schlicht unanständig. Es gab noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg so viele Kriege und kriegerische Auseinandersetzungen wie derzeit. Die Bekämpfung von Fluchtursachen und der Schutz derjenigen, die vor ihnen flüchten, sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn zum Beispiel Russland endlich seinen Krieg gegen die Ukraine beenden und sich aus dem angegriffenen Land zurückziehen würde, könnten Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in ihre Heimat zurückkehren. Wer vorgibt, gegen Krieg zu sein, darf nicht die bekämpfen, die vor ihm fliehen. Alles andere ist eine nationalchauvinistische Verweigerung der Realität.
taz: Gegen solcherlei Stimmungsmache scheint die Linkspartei allerdings nicht durchdringen zu können.
Clara Bünger: Das ist tatsächlich sehr schwer. Aber das ändert nichts an der Notwendigkeit. Machen wir uns doch nichts vor: Der Hass, der Geflüchtete trifft, zielt nicht nur auf sie. Das ist bloß die Spitze des Eisbergs. Den Rechten geht es generell um die Stigmatisierung missliebiger Gruppen, sie bekämpfen alles, was nicht ihren Normen entspricht. Sie greifen auch nicht nur das Asylrecht, sondern beispielsweise ebenso gezielt Frauenrechte an, oder die Rechte von queeren Menschen bei den CSD-Veranstaltungen. Wir sollten das höllisch ernst nehmen.
taz: Warum scheint es trotzdem so, als würde Ihre Partei die Menschen nicht mehr erreichen?
Clara Bünger: Ohne etwas schönzureden: Wenn ich mir den Wahlkampf unserer sächsischen Spitzenkandidatin Susanne Schaper anschaue, dann habe ich schon den Eindruck, dass sie die Menschen erreicht. Als gelernte Krankenschwester hat sie zu Recht die sozialen Fragen in den Mittelpunkt gestellt. Ich habe meinen Wahlkreis in der Region mit dem bundesweit geringsten Durchschnittslohn. Für die gleiche Arbeit verdienen die Menschen in Wolfsburg doppelt so viel wie bei uns im Erzgebirge. Dass die Lohnungleichheit zwischen Ost und West immer noch so real ist, halte ich für einen Skandal. Aber wer streitet denn außer uns ernsthaft dafür, dass sich das endlich ändert? Deswegen bin ich auch davon überzeugt, dass wir den Parlamentseinzug wieder schaffen. Wir haben gute Teams, die in Leipzig um die Direktmandate kämpfen, und die Partei ist in dieser schweren Zeit wieder sehr zusammengerückt. Das macht mich zuversichtlich.
taz: Und wenn Ihre Partei es doch noch mal in den sächsischen Landtag schaffen sollte, wird alles wieder gut?
Clara Bünger: Wenn es denn so einfach wäre. Nein, natürlich nicht. Wir haben einen sehr schweren Weg vor uns. Aber unsere Aufgabe ist es, die Menschen davon zu überzeugen, mit uns für eine solidarische Gesellschaft zu streiten, die Ungleichheit nicht hinnimmt, in der Gerechtigkeit und Respekt untereinander zentral, in der die Verwirklichung der universellen Menschenrechte handlungsleitend ist. Das mag pathetisch klingen, aber das ist unsere Aufgabe. Dazu will ich meinen Beitrag leisten.
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