Illustration eines Mannes mit Bart

Sie wähnen sich auf Gottes Seite, die Pläne rechter Homo-Heiler wirken aber eher teuflisch Illustration: Paula Troxler

Christliche „Konversionstherapie“:Wer braucht hier Heilung?

Queers von ihrem Begehren abbringen war Ziel einer internationalen Konferenz in Warschau. Undercover zwischen Nonnen, Erzieherinnen und Psychologen.

13.12.2023, 11:53  Uhr

Auf das Eingangsgebet folgt ein Flaggenmarsch. 32 Menschen ziehen mit Nationalfahnen durch die Stuhlreihen, sie tragen die US-amerikanische, die englische, slowakische, norwegische, ungarische, polnische und die deutsche Flagge. Die wehen stellvertretend für alle Länder, die auf der Veranstaltung repräsentiert sind. Aus Lautsprechern tönt ein Kinderchor. Ein Einmarsch wie bei Olympia. Nur dass sich hier nicht der internationale Spitzensport trifft, sondern die ideologische Führungsriege im Kampf gegen Homosexualität.

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Es ist Freitag, der 27. Oktober, kurz nach 18 Uhr, ein fensterloser Saal in einem Hotel am Rand von Warschau. 200 Personen haben auf rot gepolsterten Stühlen Platz genommen und applaudieren den Flaggenträger*innen. Es sind Christ*innen, Evangelikale, Ka­tho­li­k*in­nen aus der ganzen Welt. Was sie eint, ist ihr Kampf gegen sexuelle und körperliche Selbstbestimmung. Sie verachten die Ehe für alle und die Pride Parade. Nach Warschau sind sie gekommen, weil sie lernen wollen, wie Homosexualität, trans und nichtbinäre Identitäten „heilbar“ oder veränderbar sind.

Die Veranstaltung ist die neunte jährliche Konferenz der International Foundation for Therapeutic and Counselling Choice. Die IFTCC ist eine christliche Lobbyorganisation mit Sitz in London. Hinter ihr steht der Core Issues Trust, eine Organisation, die in Nordirland gemeinnützigen Status hat. Offiziell gibt sich die IFTCC als Hilfsorganisation aus. Ihr erklärtes Ziel ist es, Menschen zu unterstützen, die den „LGBT-Lifestyle“ verlassen wollen. Wer sich genauer mit der IFTCC beschäftigt, merkt: Es geht nicht um Unterstützung. Es geht um Umerziehung.

Die IFTCC arbeitet so intensiv wie keine andere evangelikale Organisation daran, ihre Methoden im Kampf gegen queere Menschen unter ein europäisches Publikum zu bringen. Sie trifft Po­li­ti­ke­r*in­nen in Großbritannien, organisiert online Kampagnen und veranstaltet internationale Konferenzen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Dreitagesticket für 145 Euro

Die Konferenz in Warschau trägt das Motto: „Das Blatt wenden: Fachübergreifende Ansätze zu den Themen Sexualität und Geschlecht.“ Hier treffen sich polnische Psychologen, britische Erzieherinnen, slowakische Nonnen, norwegische Pornografiegegner und deutsche Mediziner. Angekündigt sind 23 Speake­r*in­nen und Gäste aus 32 Ländern. Ein Dreitagesticket für die Konferenz kostet 145 Euro, 200 Euro die Übernachtung im Hotel. „Wir stehen gemeinsam gegen die progressive Ideologie“, heißt es im Vorwort des Konferenzprogramms.

Zuständig dafür, dass alle Fah­nen­trä­ge­r*in­nen in der richtigen Reihenfolge einmarschieren, ist Janine F. Die 39-jährige Frisörin aus Berlin gehört zum Organisationsteam hinter den Kulissen. Janine F. ist aber auch vor den Kulissen wichtig. Auf Instagram und Youtube präsentiert sie sich als „Ex-Gay“ – als eine, die mit ihrem Leben als verheiratete lesbische Frau gebrochen hat. Gott habe sie geheilt. Die Hel­fe­r*in­nen­trup­pe auf der Konferenz in Warschau besteht aus mehreren „Ex-Gays“. Sie tragen schwarze T-Shirts, auf ihren Rücken steht: „Once gay – not anymore“, in Regenbogenfarben: „Einst gay – aber nicht mehr.“

Sie sind das hippe Gesicht der ansonsten eher grauhaarigen Organisation: jung, modebewusst und Social-Media-affin. Sie sind der scheinbar lebende Beweis dafür, dass es nicht nur möglich, sondern auch befreiend sei, die eigene sexuelle Orientierung oder das Geschlecht zu unterdrücken.

Online gibt sich die IFTCC professionell. Auf ihrer Webseite steht, die Organisation setze sich für „Therapiefreiheit“ ein. Was sie damit meint, verrät eine von ihr veröffentlichte Petition, die sich gegen Verbote von sogenannten Konversionsbehandlungen richtet. Konversionsbehandlungen sind Praktiken, die darauf abzielen, die sexuelle Orientierung oder das Geschlecht von Personen zu verändern. Ihre Ver­fech­te­r*in­nen behaupten, damit Menschen von Homosexualität oder trans Identität „heilen“ zu können. Dafür, dass das möglich ist, fehlt jede wissenschaftliche Grundlage. In immer mehr Ländern sind Konversionsbehandlungen verboten, in Deutschland für bestimmte Personengruppen.

Illustration von betenden Menschen

Illustration: Paula Troxler

Mitleid und Vernichtungsfantasien

Offiziell will die IFTCC nichts mit therapeutischen Konversionsbehandlungen an sich zu tun haben. Aber wer sich unter ihren Mitgliedern und Verbündeten umhört, stößt schnell auf ein breites Spektrum an Ablehnung von queerem Leben. Es reicht von Mitleid bis zu Vernichtungsfantasien.

Wer verstehen will, wie die An­hän­ge­r*in­nen der Organisation ticken, muss sich hinter die professionelle Fassade begeben. Die Veranstaltung in Warschau wird im Vorfeld nicht öffentlich beworben – nur auf Nachfrage erfährt man das Wo und Wann. Im Newsletter wird gebeten, Infos zur Konferenz nicht in sozialen Medien zu teilen. Jour­na­lis­t*in­nen sind unerwünscht. Also verbergen wir unser journalistisches Interesse. Wir melden uns als normale Gäste an, mit leicht veränderten Namen.

Auf der Konferenz sind wir als eine besorgte Pädagogin, eine Sozialarbeiterin und als ein angehender Doktorand, der zu „Therapiefreiheit“ forschen will, unterwegs. Wir werden oft gefragt, woher wir von der Veranstaltung wissen. Unsere Antworten überzeugen, sobald die szenetypischen Stichworte fallen: von einer Demo gegen Abtreibung, von einer Kollegin in einem christlichen Familienzentrum, wegen eigener Erfahrungen mit „ungewollter gleichgeschlechtlicher Anziehung“.

So öffnet sich ein Zugang zu diesem „geschützten Rahmen“, wie es eine Teilnehmerin vor Ort nennt. Die drei Tage sind straff durchgeplant, ein Vortrag folgt auf den nächsten. Die Speake­r*in­nen sprechen frei, man kennt sich, man vertraut sich. Ein Pastor referiert über eine „glaubensbasierte Reise aus dem LGBT“ hinaus. Ein Mann, der sich selbst als Sexsuchttherapeut bezeichnet, spricht über „Homosexualität als Symptom sexualisierter Bindung“.

Wege aus der Homosexualität

Das Publikum folgt gebannt. Es steht auf, wenn es Zeit für ein Gebet ist, lacht, wenn ein Redner transfeindliche Witze macht. Fragen sind nach den meisten Vorträgen nicht zugelassen.

Dabei wird es auf der Bühne zum Teil bizarr: Ein US-amerikanischer Berater spricht von Methoden zur „Erholung“ von „gleichgeschlechtlicher Anziehung“. Eine Therapeutin sagt, sie behandle homosexuelle Pa­ti­en­t*in­nen genauso wie Personen mit Essstörungen. Die Frau eines britischen Pastors sagt im Gespräch, es bräuchte dringend Forschung zu den Ursachen von Homosexualität. Sie sagt auch, warum: „Ich meine, diese LGBT-Freaks, lassen wir sie kastrieren? Was sollen wir tun?“

Doch bei aller Vertrautheit unter den Anwesenden ist in Warschau auch Vorsicht spürbar. Zwar sprechen die Re­fe­ren­t*in­nen offen über Wege aus der Homosexualität – wie sie es nennen – „ungewollte Nicht-Heterosexualität“. Doch das Wort „Konversionstherapie“ fällt nicht. Eine US-amerikanische Familientherapeutin plädiert zwar dafür, die „Mauern der gleichgeschlechtlichen Anziehung niederzureißen“. Sie warnt aber vor dem Gebrauch des „K-Worts“. Sie weiß, wie schlecht sein Ruf ist.

Das Suizidrisiko kann steigen

Die taz hat die IFTCC nach der Konferenz in Warschau offiziell zu ihrer Position zu Konversionsbehandlungen befragt. Die Organisation hat keine der Fragen beantwortet, stattdessen verweist sie auf den Text auf ihrer Webseite, in dem sie sich gegen Verbote von Konversionsbehandlungen ausspricht.

For­sche­r*in­nen warnen vor dem entwürdigenden und betrügerischen Charakter von Konversionstherapien. Sie könnten psychische wie physische Erkrankungen zur Folge haben und das Suizidrisiko von Betroffenen erhöhen

Der EU-Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres hat im vergangenen Sommer Konversionspraktiken in der EU untersuchen lassen. Dazu zählen psychotherapeutische, medikamentöse und religiös motivierte Konversionsversuche. Die For­sche­r*in­nen warnen vor dem „diskriminierenden, entwürdigenden, schädlichen und betrügerischen Charakter“ solcher Praktiken. Sie könnten psychische und physische Erkrankungen zur Folge haben und das Suizidrisiko von Betroffenen erhöhen.

Menschenrechtsorganisationen bezeichnen Konversionspraktiken als Folter. In immer mehr Ländern sind sie deshalb verboten. In Deutschland gilt seit 2020 das „Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen“. Demnach macht sich strafbar, wer sie an Minderjährigen und Menschen, deren Einwilligung erzwungen wurde, durchführt.

Kurz vor Inkrafttreten verlegte „Wüstenstrom“, der bis dato bekannteste deutsche Verein, dem Konversionsbehandlungen vorgeworfen wurden, seinen Sitz in die Schweiz. Man fühle sich in Deutschland durch das Gesetz „diskriminiert“. Eine Nachfrage der taz bei 16 Generalstaatsanwaltschaften bundesweit ergibt allerdings: Bisher ist kein Strafverfahren auf Grundlage des Gesetzes bekannt. Bedeutet das, dass seitdem keine Konversionsbehandlungen mehr stattfinden? Oder bringt sie niemand zur Anzeige?

Belastbare Zahlen dazu gibt es nicht. Doch Klemens Ketelhut hat Hinweise gesammelt. Ketelhut arbeitet bei Mosaik Deutschland, einem Verein für politische Bildung in Heidelberg. Im Auftrag des Gesundheitsministeriums hat er eine Studie zu Konversionsbehandlungen durchgeführt. Er und sein Team haben knapp 3.500 queere Personen nach ihren Erfahrungen befragt.

Unter Legalität getarnt

Ein Ergebnis: 20 Prozent der Befragten, die aufgefordert wurden, ihre sexuelle Orientierung zu ändern oder zu verbergen, machten diese Erfahrung in religiösen Kontexten, etwa in der Gemeinde. Fast ein Drittel der Befragten, die aufgefordert wurden, ihre Geschlechtsidentität zu ändern oder zu unterdrücken, machten diese Erfahrung in einer Psychotherapie.

Für Ketelhut sind diese Ergebnisse alarmierend. Er sagt, besonders gefährdet, auf Konversionsversuche hereinzufallen, seien Menschen, die sich in der frühen Phase ihres Coming-outs befinden und gleichzeitig unter hohem Druck durch ihr soziales Umfeld stehen. „Besonders wenn die Anforderungen umfassend sind, wie in evangelikalen Sekten oder Neonazicliquen, die ja das ganze Leben bestimmen, sind Leute besonders anfällig“, sagt Ketelhut im Gespräch mit der taz. Zudem hätten die Angebote für Konversionsbehandlungen einen immer professionelleren Anstrich. „Heute gibt es durchorchestrierte Programme, die so gebaut sind, dass sie die Legalität behalten“, sagt Ketelhut.

Diese Professionalität erkennt Ketelhut in den Aktivitäten des Core Issues Trust und der IFTCC. Einerseits ermögliche die internationale Vernetzung der Organisationen einen flexiblen Umgang mit Restriktionen, sagt der Forscher: „Werden in einem Land gesetzliche Verbote erlassen, können die Aktivitäten schnell und geräuschlos an andere Orte verlegt werden.“

In Großbritannien, dem Sitz der IFTCC, ließ Premierminister Rishi Sunak das jahrelang debattierte Vorhaben, ein Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen zu erlassen, Ende Oktober fallen. Zudem, sagt Ketelhut, habe es die IFTCC optimiert, unterschiedliche Zielgruppen auf unterschiedlichen Wegen zu erreichen, von Social Media bis zu Treffen wie der Konferenz.

Horte der religiösen Rechten

Dass die IFTCC ihre diesjährige Konferenz in Warschau veranstaltet, ist kein Zufall. Was die Organisation verbreitet, könnte andernorts als Straftat gelten. In Deutschland ist auch die Werbung für Konversionsbehandlungen verboten, sie gilt als Ordnungswidrigkeit. In Polen allerdings, wo die rechtskonservative PiS-Partei in den vergangenen Jahren die Rechte auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung stark beschnitten hat, muss die IFTCC kaum Gegenwind fürchten. In den vergangenen Jahren fand die Konferenz in Ungarn statt, davor in Bratislava: Die Horte der religiösen Rechten in Osteuropa.

Das erste Treffen der Gruppe, aus der sich die IFTCC entwickelt hat, hat nach Angaben der Organisation 2015 in Deutschland stattgefunden. Eine, die damals dabei war, steigt neun Jahre später, am Samstag, gegen 19.30 Uhr in Warschau auf die Bühne. Hinter dem Publikum liegen mehr als zehn Stunden Programm. Vor ihnen steht jetzt Christl R. Vonholdt, eine pensionierte Medizinerin aus Hessen. Von 2017 bis 2020 war sie im Vorstand der IFTCC. Während der Vorträge in Warschau sitzt sie in der vierten Reihe. Doch wenn sich die 71-Jährige durch die Hotellobby bewegt, wird sie gegrüßt, grüßt zurück, nickt, unterhält sich. „Es macht mir Freude zu sehen, wie die IFTCC wächst“, sagt Vonholdt in das Mikrofon.

Die Ärztin ist eine bekannte Stimme in der deutschsprachigen Konversions-Szene. Vonholdt leitete bis 2021 das Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft (DIJG), ein Thinktank der evangelikalen Kommunität Offensive Junger Christen (OJC) im Odenwald. Die OJC ist Teil der Evangelischen Kirche.

Vonholdt scheut die Presse, sie veröffentlicht aber eigene Texte im Internet. Sie schreibt gegen das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare an und warnt vor der gleichgeschlechtlichen Ehe. Trans Identitäten führt sie in einem Text auf „soziale Ansteckung“ zurück. In einem älteren Text wurde sie in Sachen Konversionstherapie sogar expliziter: Jugendliche sollten über „die Möglichkeiten der Veränderung einer homosexuellen Neigung hin zur Heterosexualität“ informiert werden, hieß es da. Der Text ist mittlerweile gelöscht. Auf eine offizielle Anfrage der taz, wie sie heute zu Konversionsbehandlungen steht, reagierte Vonholdt nicht.

Sie sagt, Gott habe ihr den Weg gezeigt

Dafür lässt sie sich in Warschau auf ein persönliches Gespräch ein – in dem Glauben, vor ihr stehe eine interessierte Pädagogin. Sie deutet an, dass sie in der IFTCC inoffiziell aktiv geblieben sei, sie solle in der Organisation eine neue Position bekommen. Zudem halte sie Vorträge und reise zu Treffen nach Ungarn. Vonholdt wirbt auch für neue Mitglieder: „Wir brauchen Verstärkung in Deutschland.“ Sie empfiehlt ein Buch. Vonholdt beschreibt es so: Es gehe darin um die „Verrohung“, die hinter lesbischem Begehren stecke. Und dass der Grund dafür „entwicklungsnachteilige Kindheitserfahrungen“ sein könnten. Amazon verkauft dieses Buch nicht. Es sei „hervorragend“, sagt Vonholdt.

Was in Warschau unter dem Deckmantel der Wissenschaft zusammenkommt, hat seine ideologische Quelle in den USA. Als Vater der Konversionsbehandlung gilt der Psychologe Joseph Nicolosi, der mit seiner sogenannten reparativen Therapie seit den 1990er Jahren für die „Heilung“ von Homosexualität warb. Gesundheitsorganisationen warnten: Seine Theorie habe keinen wissenschaftlichen Halt. Später packten ehemalige Pa­ti­en­t*in­nen und Schü­le­r*in­nen Nicolosis aus, berichteten von den Schäden, die die Behandlung bei ihnen angerichtet hatte.

Nach der medizinischen Diskreditierung Nicolosis gründete sein Sohn, Joseph Nicolosi Jr., 2018 die Reintegrative Therapy Association in Kalifornien. Pa­ti­en­t*in­nen sollen sexuelle Schlüsselfantasien besprechen, die angeblich durch Traumata in der Kindheit entstehen. Dies erzeuge einen Aha-Moment, der „spontane“ Heterosexualität auslöse, sozusagen als unintendierten Nebeneffekt der Traumatherapie.

Nicolosi Jr. beruft sich auf wissenschaftliche Untersuchungen. Die taz hat einige der Wissenschaftler*innen, auf die er sich bezieht, gefragt, ob sie Nicolosis Lesart ihrer Studien zustimmen. Der Psychologieprofessor Ritch Savin-Williams von der Cornell-Universität im Bundesstaat New York verwehrt sich dagegen. Es sei „unglaublich“, schreibt er, dass „die Rechten“ seine Untersuchungen als Evidenz für Konversionsversuche verdrehen. „In der Tat halte ich Konversionstherapie nicht nur für fehlgeleitet, sondern auch für einen Ausdruck böser Absicht“, sagt Savin-Williams. Seine Forschung zeige: Sexualität bewege sich zwar auf einem Spektrum. Aus seiner Sicht sei sie jedoch angeboren.

Gottes In­flu­en­ce­r*in­nen

Bei der IFTCC ist Nicolosi Jr. weiterhin gern gesehen. Auf ihrer Webseite bietet die IFTCC Kurse zu Nicolosis Thesen an, für 9,99 Euro pro Video. Bei der Konferenz im vergangenen Jahr stand Nicolosi Jr. auf der Bühne.

Den Kon­ver­si­ons­lob­by­is­t*in­nen reicht es nicht, sich in abgelegenen Hotels zu treffen. Für mehr Reichweite nutzen sie die sozialen Netzwerke. Auf Instagram betreibt der Core Issues Trust, die Trägerorganisation der IFTCC, die Kampagne „X-Out-Loud“. Die Berlinerin Janine F., die in Warschau den Flaggenmarsch koordiniert, ist Teil der Kampagne.

Sie und andere „Ex-LGBT“ dokumentieren dort, wie es angeblich gelingen kann, die eigene Sexualität zu unterdrücken. Etwa in einem Video, hochgeladen im September. Janine F. sitzt auf einer Couch, das Licht ist schummrig. Janine F. sagt, Gott habe ihr den Weg aus ihrer lesbischen Beziehung gezeigt. Sie führt die Gefühle zu ihrer Ex-Frau auf Verletzungen in ihrer Kindheit zurück. Ihr Vater sei abwesend gewesen, ihre Mutter habe nicht die traditionelle Rolle erfüllt, sie sei Pornografie „ausgesetzt“ gewesen. In ihrer Geschichte reiht sie dieselben Buzzwords aneinander, die auch auf der Konferenz in Warschau fallen. 4.000-mal wurde das Video auf Youtube angeschaut.

Die IFTCC braucht Janine F. und die anderen „Ex-LGBT“. Was wäre die Theorie ohne die Geheilten? Auf Instagram posten sie Gruppenfotos von Reisen, Treffen und Protesten. Vor zwei Jahren veröffentlichten sie ein Buch, in dem 44 Personen erzählen, wie sie ihre queeren Identitäten „verlassen“ haben. Sie wollen zeigen: Wir sind laut, wir sind viele. Doch wer genauer hinsieht, merkt: Es sind kaum mehr als ein Dutzend Aktive.

Sie ziehen sogar Holocaust-Vergleiche

Die gemeinnützige US-Organisation GAPHE (Globales Projekt gegen Hass und Extremismus) hat die digitalen Wortführer der Konversionstherapien untersucht, darunter auch die X-Out-Loud-Kampagne. Deren Prot­ago­nis­t*in­nen gehen taktisch vor, heißt es in dem Bericht: „XOL vereinnahmt und verdreht die Sprache der LGBTQ+-Bewegung für ihre eigenen Zwecke.“ Der Bericht betont, wie „extrem schädlich“ diese Praktiken für Betroffene sind und warnt Techfirmen, diese Inhalte zu verbreiten.

Teilweise haben Social-Media-Unternehmen die Kampagnen im Blick. Instagram blockierte kürzlich ein Profilbild mit dem Logo der Kampagne, vor zwei Jahren löschte Facebook das Profil des Core Issues Trust. In Malta läuft derzeit ein Strafverfahren gegen ein Mitglied der XOL-Kampagne. Der Vorwurf: Werbung für Konversionsbehandlungen.

Doch die persönlichen Accounts der XOL-Mitglieder sind auf Instagram weiter aktiv. Dort werben sie nicht nur für den „Ex-LGBT Lifestyle“. Ein 20-jähriges Mitglied schreibt in einem Beitrag von der vermeintlichen Gefahr durch den „Kulturmarxismus“. Dazu postet er ein Foto von der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und den Hashtag #endwokeism, also etwa: Beendet die woke Ideologie. Der Beitrag soll wohl nahelegen, dass Forderungen nach einer gleichberechtigten Gesellschaft und der Holocaust in Verbindung gebracht werden können. Es sind das Vokabular und ein Vergleich, die auch die selbsternannte Neue Rechte gern verwenden.

Auch die IFTCC hat schon ähnlich argumentiert, um Gesetze zum Schutz vor Konversionsbehandlungen zu verhindern. Diese Sprache wird auch auf der Konferenz in Warschau gesprochen. Sie steht auf Präsentationen an der Wand und gellt von der Bühne. Ein US-amerikanischer Redner diagnostiziert LGBTIQ, Black Lives Matter und der Antifa „dasselbe Problem“: Ihre „marxistischen Herzen“.

Sie warnen vor einem Kulturkampf, den sie selbst befeuern

Eine polnische Psychologin erklärt, warum die „Agenda“ von LGBTIQ einer kommunistischen Revolution gleiche. Neben queeren Menschen werden die Medien, der Staat, und Linke zu Wi­der­sa­che­r*in­nen erklärt. Die Anwesenden raunen dann. Augenscheinlich wissen sie, wer gemeint ist, wenn die Speake­r*in­nen sagen: „diese Leute“, „unsere Gegner“. Sie warnen vor einem Kulturkampf, den sie selbst befeuern.

Manche nehmen diesen Kampf so ernst, dass sie das Publikum aufrufen, ihn auf die Straße zu tragen. Eine britische Anwältin spricht vor einem „ideologischen Tsunami“ und breitet eine „Langzeitstrategie gegen die LGBT-Ideologie“ vor dem Publikum aus: Die Anwesenden sollen Forschung betreiben, sich in die Politik einbringen, ihre Positionen öffentlich vertreten, wenn es sein muss, bis vor Gericht. Sie sollen in den sozialen Medien aktiv sein und sich in Ethikkommissionen einschleusen. Dann vergleicht sie Schwangerschaftsabbrüche mit den Kriegen in der Ukraine und in Nahost.

Die Anwältin sagt es mehr oder weniger deutlich: Wenn es nach ihr ginge, gehörte Homosexualität verboten. Weil sie Strategin ist und Christin und eher in Jahrzehnten denkt, als in den schnellen Schritten des irdischen Lebens, sagt sie auch, wann es so weit sein soll: in rund 60 Jahren. Ihre Präsentation zeigt einen Zeitstrahl mit Jahren, in denen Antidiskriminierungsgesetze in Großbritannien erlassen wurden. Sie präsentiert sie als eine Reihe von Unglücken.

Diese Recherche ist in Kooperation mit der britischen Byline Times und dem russischen Exilmedium istories media entstanden. Sie wurde ermöglicht durch eine Förderung von Journalismfund Europe.

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