Chinas Bürgerrechtler Chen Guangcheng: „Es gibt wieder mehr Sippenhaft“

Der blinde Rechtsanwalt Chen Guangcheng ist aus China geflohen. Er spricht über die Menschenrechte in der Volksrepublik unter Präsident Xi Jinping.

Der exilierte blinde chinesische Menschenrechsanwalt Chen Guangcheng beim taz-Interview Foto: Sven Hansen

taz: Herr Chen, Sie haben in China als Anwalt Frauen verteidigt, die gegen die Ein-Kind-Politik verstoßen haben. Diese Politik wurde inzwischen gelockert. Wie steht es heute um die Ein-Kind-Politik?

Chen Guangcheng:Es ist jetzt möglich, mehr als ein Kind zu haben, aber strukturell hat sich die Politik nicht verändert. Die entsprechenden Institutionen blieben auf allen Verwaltungsebenen unverändert. Von ihnen profitieren viele Kader zum eigenen Vorteil. Solange nicht das ganze System abgeschafft wird, können wir nicht von einem wirklichen Politikwandel sprechen. Auch behält sich die Kommunistische Partei weiter das Recht vor zu entscheiden, wie viele Kinder jemand haben darf. Das ist inakzeptabel.

Sie haben China im Mai 2012 verlassen, bald darauf kam dort Xi Jinping an die Macht. Wie hat sich die Menschenrechtslage in China seitdem entwickelt?

Vieles ist unter Xi Jinping schlechter geworden, auch die Methoden haben sich etwas verändert. So haben wir in letzter Zeit viele in den Medien übertragene erzwungene Geständnisse gesehen, das gab es zuvor kaum. Angeklagten werden Anwälte verwehrt. Auch gibt es heute mehr Sippenhaft, also dass eine ganze Gruppe für Aktionen einzelner Mitglieder büßen muss.

Hat sich die Arbeit der Rechtsanwälte verändert?

Ihre Situation hat sich parallel zum gewachsenen Rechtsverständnis der Bevölkerung entwickelt. Heute sind mehr Menschen als früher bereit, Dinge beim Namen zu nennen und soziale Gerechtigkeit einzufordern. Das ermutigt die Rechtsanwälte. Sie stehen andererseits unter wachsendem Druck der Kommunistischen Partei.

Der 44-Jährige ist seit seiner Kindheit blind. Er bildete sich autodidaktisch zum Juristen und wurde zum Feind der Behörden, weil er in Shandong Dorfbewohner gegen Zwangsabtreibungen beriet. Nach vierjähriger Haft floh er 2012 in die US-Botschaft in Peking. Heute arbeitet er in Washington für das konservative Witherspoon Institut.

Haben die Anwälte heute weniger Spielraum?

Die Kontrolle durch die Kommunistische Partei hat zugenommen, aber andererseits engagieren sich Anwälte heute stärker. Ihre Arbeit ist sehr wichtig für die Bewusstseinsbildung und Mobilisierung der Bevölkerung für soziale Gerechtigkeit.

„Das Regime kann den Aufbruch nicht völlig kontrollieren“

Trotzdem scheint das Gros der Bevölkerung hinter der Regierungspolitik zu stehen. Warum ist der Druck für politische Reformen nicht größer?

Die Zahl derer, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, wächst. Diesen Aufbruch kann das Regime nicht vollständig kontrollieren. Auf der Graswurzelebene gibt es sehr viele Diskussionen über politische Reformen. Aber für ausländische Medien ist es sehr schwer, hierzu einen Zugang zu bekommen. Und innerhalb Chinas können die zensierten und kontrollierten Medien natürlich nicht darüber berichten. Und im Internet lassen die Zensoren schnell Beiträge löschen.

Haben Sie ein Beispiel?

Es gab kürzlich in der Provinz Jiangsu einen Tornado. Die Lokalregierung richtete eine Webseite ein, auf der für Opfer gespendet werden konnte. Doch schnell war die Webseite voll Kritik an der Regierung. Der Tenor: Wie könnte man das Volk um Spenden bitten, wo die Regierung so viel Geld verplempert und die KP so wohlhabend ist? Schon nach zwei Stunden musste die Webseite vom Netz genommen werden. Ein starker Kontrast zum Beben in Sichuan 2008, als die Bevölkerung noch großzügig spendete.

Sie und viele andere Regimekritiker haben China in Richtung USA verlassen müssen. Dort sind viele von ihnen bedeutungslos geworden. War es ein geschickter Schachzug der Regierung, Sie und andere gehen zu lassen?

Die Regierung hatte keine andere Wahl, als mich gehen zu lassen. Vor zwanzig Jahren war der Informationsaustausch mit dem Ausland viel schwieriger und da war es vielleicht noch geschickt, Kritiker ins Ausland abzuschieben. Aber im heutigen Internetzeitalter ist es anders. Ob ich in Washington, New York oder Berlin bin, ich kann mit den Menschen in China so kommunizieren, als wäre ich dort. Ich kann von außerhalb Chinas sogar freier kommunizieren. Es geht eher darum, ob man wirklich glaubt, weniger Einfluss zu haben, wenn man nicht mehr in China ist. Sitzt man dem auf, hat man wirklich weniger Einfluss. Ich glaube das nicht.

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