Chancengleichheit in der Bildung: Wider die föderale Bildung
Von Chancengleichheit im Bildungssystem ist Deutschland weit entfernt. Höchste Zeit, dass die Ampel den Ländern stärkere Vorgaben macht.
E inmal im Jahr, zum heutigen Tag der Bildung, veröffentlicht die gleichnamige Stiftung eine interessante repräsentative Umfrage. Interessant deshalb, weil dort ausnahmsweise mal nicht Eltern oder Lehrkräfte zum deutschen Bildungssystem befragt werden – sondern junge Leute zwischen 14 und 21. Die Peergroup sozusagen. Und was die zum Zustand unseres Schulsystems denkt, sollte ernsthaft nachdenklich stimmen.
Nicht einmal jede:r Dritte ist der Ansicht, dass alle Kinder in Deutschland die gleichen Chancen auf eine gute Bildung haben. So skeptisch wie in diesem Jahr ist die Umfrage noch nie ausgefallen. Auffällig dabei ist: Je älter die Befragten sind, desto weniger glauben sie an die Bildungsgerechtigkeit. Vermutlich, weil sie selbst miterleben, wie sehr sie in den weiterführenden Schulen unter ihresgleichen bleiben. Die Privilegierten im Gymnasium, der Rest in den Resteschulen.
Das Aufstiegsversprechen passt nicht zur Lebenserfahrung junger Menschen. Ganz neu ist die Erkenntnis natürlich nicht. Manche:r Politiker:in aber hielt die Chancenungleichheit, die die erste Pisa-Studie vor gut 20 Jahren offenlegte, schon für überwunden. Oder so gut wie. Anzeichen dafür gab es durchaus: Mehr und mehr Kinder aus Arbeiter- und Zuwandererfamilien schafften es bis an die Uni. Die Schranken für den zweiten Bildungsweg wurden immer weiter abgebaut.
Und auch Eltern aus bildungsbenachteiligten Schichten gaben ihre Kinder zunehmend in Kita- und Ganztagsbetreuung. Von gleichen Chancen konnte und kann trotzdem noch lange keine Rede sein. Im Gegenteil. Wie die jüngste IQB-Studie zeigt, nimmt der Einfluss des Elternhauses auf den Bildungserfolg sogar zu. Spätestens jetzt müsste den Schönfärber:innen klar geworden sein, dass Deutschland hier auf der Stelle tritt. Oder anders formuliert: Alle Versuche der zuständigen Länder, gleiche Bildungschancen herzustellen, sind mehr oder weniger gescheitert.
Günstige Zeit für Reformen
Keine Frage, die Bildungsminister:innen sind ordentlich unter Zugzwang. An diesem Freitag wollen sie ein wissenschaftliches Gutachten vorstellen, wie die Bildungschancen der weniger privilegierten Kinder nicht schon in der Grundschule flöten gehen. Nach dem Pisa-Schock 2.0 zeigen sich die Länder entschlossen, das Problem endlich anzugehen.
Die Frage ist nur: Reicht der gute Wille, oder muss der Bund dem föderalen, sechzehnfachen Vor-sich-hin-Gemurkse nicht langsam ein Ende machen und stärker in der Bildungspolitik mitmischen? Etwa in der Definition von bundesweiten Standards – von verpflichtenden Sprachtests im Vorschulalter bis hin zu den Kriterien, nach denen bedürftige Schulen zusätzliches Personal erhalten.
Schaden würde es bestimmt nicht. Vielmehr machte es die Bildungsbemühungen der Länder vergleichbarer und damit das System gerechter. Der Zeitpunkt für eine neuerliche Föderalismusreform scheint jedenfalls günstig zu sein. Zum einen lässt die Kritik von Bildungsforscher:innen an bisherigen Bund-Länder-Programmen keinen Spielraum für Interpretationen.
Wer vermeiden möchte, dass die nächsten Bundesmilliarden wieder genauso ziellos und unwirksam ausgegeben werden wie letzthin für die Bekämpfung pandemiebedingter Lernlücken, kommt um einheitliche Standards und klare Zielvorgaben nicht herum. Die Länder müssen sich bewegen, wenn sie wie im Sommer lautstark eine Verlängerung des Corona-Aufholprogramms und weitere 500 Millionen Euro vom Bund verlangen.
Hohe Summen für die Chancengleichheit
Völlig zu Recht fordern Bildungspolitiker:innen der Ampelparteien, dass mit dem Prinzip Gießkanne – das den Ländern so gut in den Kram passt, weil es sie zu nichts verpflichtet – nun bald Schluss ist. Und dass die Bundesregierung den Ländern künftig im Gegenzug zur locker sitzenden Brieftasche mehr Zugeständnisse abverlangt. Immerhin ist die Ampel mit dem Ziel angetreten, die Rolle des Bundes in der Bildung zu stärken. Seit 2006 darf der Bund laut Grundgesetz nicht mehr in Bildung investieren.
Später haben Bundestag und Bundesrat das „Kooperationsverbot“ auf Drängen der SPD gelockert. Die Ampel will nun auch inhaltlich ein Wörtchen mitreden dürfen. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) träumt von einer „neuen Kooperation zwischen Bund und Ländern“. Die spannende Frage bleibt, ob die Länder da mitmachen. Kurze Antwort: Schwer vorstellbar. Zumindest bei einer erneuten Änderung des Grundgesetzes, also einer dauerhaften Regelung, dürfte sich der Bundesrat querstellen.
Dabei wären die Länder gut beraten, sich auf den Handel Geld gegen Mitsprache einzulassen. Das lässt sich gut am Startchancenprogramm der Ampel erklären. Kommt es wie geplant, ist es das wohl ambitionierteste deutsche Bildungsvorhaben zur Bekämpfung der Chancenungleichheit. 4.000 Schulen mit besonders benachteiligten Schüler:innen sollen davon profitieren. Das ist jede zehnte.
Momentan ist ein jährliches Budget pro Schule im sechsstelligen Bereich im Gespräch. Mindestens zehn Jahre soll die Förderung andauern und im Herbst 2024 anlaufen. Aktuell verhandeln Bund und Länder über die Details. Sicher ist aber eins: Vom Umfang her übersteigt das Startchancenprogramm alles, was die Länder in Sachen Bildungsgerechtigkeit jemals aufbringen könnten. Es könnte also wirklich etwas ausrichten, wenn das Geld auch wirklich dort ankommt, wo es am dringendsten benötigt wird.
Ist den Ländern also an der Bildungsgerechtigkeit gelegen, stimmen sie sinnvollen Kriterien für die Auswahl der Schulen sowie verbindlichen Zielvorgaben zu. Mit einem Wort: Sie gewähren dem Bund Mitsprache. Aktuell zeichnet sich ab, dass die Länder zumindest in der Auswahl der Schulen zu Kompromissen bereit sind. Das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung, um die Bildungsmisere in deutschen Landen anzugehen.
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