Chancen der Coronapandemie: Merkel plus
Nicht Corona wird eines Tages vorbei sein, sondern die Welt, wie wir sie kennen. Doch was tun, wenn diese Welt nicht mehr existiert?
Z u den selbstverständlichsten Illusionen des Menschen gehört es, dass die meisten anderen Vollidiotinnen und Vollidioten sind, nur man selbst und ein paar Auserwählte nicht. Diese Ideologie war in den guten alten Zeiten der fossil betriebenen Bundesrepublik ein durchaus praktikabler Lifestyle, speziell wenn man diese anderen den Laden schmeißen ließ und das aus sicherer Distanz mit ein paar Adorno-Zitaten garnierte.
Nun könnte man daraus schlussfolgern: Wenn wir eines können, dann ist es kritisieren!
Pfff. Wie uns Corona zeigt, stimmt das leider auch nicht. Corona „lehrt“ die meisten genau das, was sie selbst schon immer lehrten: den einen, dass es ungerecht zugeht; den anderen, dass je nach Weltanschauung etwas in Gefahr ist, die Freiheit, die Bildung, die Art des Wirtschaftens. Wieder andere sehen als endgültig erwiesen an, dass „der Kapitalismus“ das Problem ist – oder letztlich doch Boris Palmer. Das ist oft reflexhaft dahergebrabbelt, manchmal bestechend klug, aber in den wenigsten Fällen ist es problemlösungsorientiert.
Leute sind am Ende ihrer Kräfte; besonders belastete Branchen und Berufe wie auch Eltern, die täglich Doppelschichten von Erwerbs- und Familienarbeit fahren. Vor allem leiden und sterben Leute an der Virusinfektion. Aber auch das sollte man nicht dazu benutzen, andere des Schlechtmenschentums zu überführen.
Die Methode des Wartens
Diese Pandemie überfordert alle – Politik, staatliche Institutionen, Medien, Menschen. Sie überfordert uns, weil das politische, professionelle, private Lösungsinstrumentarium zu kurz greift, weil es unzählige Teilprobleme gibt, deren Lösung für die einen lebenswichtig ist, wodurch anderswo aber andere Leute leiden oder sterben.
Unsere Chance besteht nun darin, die Pandemie nicht als blödes, singuläres Ereignis zu betrachten. Nicht Corona wird eines Tages vorbei sein, sondern die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Verschiedenste Krisen befeuern sich gegenseitig. Spätestens mit dem Auftreten der Virusmutanten könnte man sich eingestehen, dass die persönliche Augen-zu-und-durch-Strategie nicht funktioniert, das Denken, wenn man jetzt noch durchhalte bis zur „Durchimpfung“, könne man vor der nächsten großen Reise erst mal zum Runterkommen nach Mallorca usw.
Machen wir uns nichts vor: Die warmen Gefühle vieler Linksliberaler für Merkel kommen nicht nur von deren Flüchtlingspolitik Ende 2015. Merkels Politikmethode des Wartens darauf, dass die Krise so groß ist, dass sie nicht mehr ignoriert werden kann, entspricht unserem Lebensstil. Auch wenn wir das immer den anderen zuschreiben: Das sind wir. Zumindest wir Boomer.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Isch over. Die Frage lautet: Wie anders?
Das ist eine dreifache Herausforderung. Die wichtigste: das eigene Leben unter pandemischen Bedingungen hinzukriegen. Gleichzeitig ein anderes politisches Denken und Sprechen zu probieren, das die imminenten Krisen und durchaus auch schmutzigen Problemlösungen in den Blick nimmt. Sagen wir mal: eine verpflichtende und datensensible Corona-App. Grün heißt Kneipe, Rot heißt polizeilich überprüfte Quarantäne. Wäre ein autoritäres politisches Instrument, das aber die Lebensfreiheit vergrößern und Gesundheitsvorsorge in einer pandemischen Welt stärken könnte.
Wenn wir nun spüren, dass wir längst nicht mehr in der Welt leben, in der wir zu leben glaubten, sondern in einer viel härteren, dann brauchen wir auch neue und härtere Werkzeuge und zu deren demokratischer Durchsetzung und Akzeptanz – drittens – eine neue politische Methode. Ich nenne sie Merkel plus. Mehr dazu demnächst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku