Cem Özdemir will nach Baden-Württemberg: ’S kann losgange
Bundesagrarminister Cem Özdemir gibt seine Kandidatur als Nachfolger von Ministerpräsident Winfried Kretschmann bekannt. Überrascht ist niemand.
Um Punkt 12 Uhr veröffentlicht Cem Özdemir sein Instagram-Video: Ein grüner Aufzug, aber dann nimmt der Grüne doch lieber die Treppe. Oben in der Geschäftsstelle der Partei öffnet er ein Päckchen. Darin ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Cem 2Ö26“. „Jetzt kann’s losgange“, sagt der designierte Spitzenkandidat in routiniertem Schwäbisch.
Es ist nicht gerade ein Überraschungspaket, das er da am Freitag auspackt. Dass Cem Özdemir Winfried Kretschmann als Spitzenkandidat der Südwest-Grünen und möglichst auch als Ministerpräsident beerben will, war in den letzten 12 Monaten das schlechtestgehütete Geheimnis bei den Grünen in Bund und Land.
Am Morgen bekamen die grünen Abgeordneten im Stuttgarter Landtag die Einladung zu einer kurzfristigen Videoschalte mit Fraktionschef Andreas Schwarz, in der sie „über eine Personalie“ informiert werden sollten. Wenig später meldete der SWR, dass heute Özdemir seine Kandidatur bekannt gibt. Zeitgleich mit dem Film ging um zwölf Uhr auch ein Brief Özdemirs an die Bürger des Landes raus. Auf seriösem grün-grauen Briefpapier appelliert er an die „Schaffigkeit und den Erfindungsreichtum“ seines Bundeslands, das „heimatverbunden und weltoffen, klar und pragmatisch, tüchtig und manchmal auch eigensinnig“ sei.
Der Neue macht also weiter im gewohnten Kretschmann-Sound. Damit will der Super-Realo Özdemir wie sein Vorgänger bei konservativen Wählern punkten. Er verspricht Sicherheit im öffentlichen Raum und erinnert an das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft.
Taktisch ist der Zeitpunkt für seine Kandidatur nicht gerade ideal. Die Grünen stehen wie im Bund auch in Baden-Württemberg in Umfragen ziemlich zerzaust da. Gerade mal 18 Prozent würden im Südwesten derzeit grün wählen, 34 Prozent dagegen wieder die CDU. Und das, obwohl Winfried Kretschmann immer noch traumhafte persönliche Zustimmungswerte erhält, während den potenziellen Gegenkandidat, CDU-Chef Manuel Hagel, kaum einer kennt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Baden-Württemberg könnte auch Özdemirs letzte Chance sein
Und dann ist da noch die Sorge mancher Grüner, dass Baden-Württemberg vielleicht doch weniger weltoffen sein könnte, als es gerne tut. Ausgerechnet ein Parteifreund, der frühere Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon, formuliert die Angst in einem Interview mit dem SWR: Wenn man Cem Özdemir heiße, sei das in Stuttgart und Freiburg heute kein Problem. Aber möglicherweise auf dem Land. „Ich hoffe, dass ich mich im Interesse von Cem täusche“, sagte Salomon. Niemand bei den Grünen fand das sonderlich hilfreich.
Cem Özdemir ist ein Kämpfer, der allerdings nicht immer gewinnt. 1981 tritt er als 16-Jähriger den Grünen bei und gründet in Bad Urach gleich seinen eigenen Ortsverband. Sein politisches Talent wird schnell sichtbar. Özdemir hat eine Street Credibility, die der Akademikerpartei sonst abgeht. Von der Realschule hatte er sich zum studierten Sozialpädagogen hochgearbeitet. 1994 wird er erstmals in den Bundestag gewählt. Doch nach einer Affäre um privat verflogene Bonusmeilen und einem Kredit von einem windigen PR-Berater verlässt er 2002 den Bundestag, zieht sich aus der Politik zurück.
2004 startet Özdemir sein Comeback im Europaparlament. 2008 wird er ein ziemlich glanzloser Parteivorsitzender, scheitert zuvor in Baden-Württemberg beim Kampf um einen sicheren Listenplatz für den Bundestag. Heute ist Özdemir Stimmkönig seiner Partei. In Stuttgart holt er bei der letzten Bundestagswahl das Direktmandat mit fast 40 Prozent.
Aber Baden-Württemberg könnte auch Özdemirs letzte Chance sein, seine Karriere zu krönen. 2018 stand er kurz vor der Erfüllung seines Traums, Außenminister zu werden. Dann verließ die FDP die Jamaika-Verhandlungen. Das wenig ruhmreiche Landwirtschaftsministerium bekam er vier Jahre später eher als Trostpreis.
Bei einer baden-württembergweiten Umfrage zur Zufriedenheit mit seiner Arbeit halten sich heute Zustimmung und Ablehnung mit je um die 45 Prozent die Waage. Nicht der schlechteste Wert für einen, dem die Junge Union am Tag seiner Kandidatur das hässliche Label „Ampel-Cem“ an die Jacke kleben will. Özdemirs Hashtag #2Ö26 geht derweil bundesweit viral.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Krisentreffen nach Sicherheitskonferenz
Macron sortiert seine Truppen
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär