Bundessozialgericht zu Hartz-IV: Trinkgeld? Geht nicht an den Staat
Wenn jobbende Hartz-IV-Bezieher:innen Trinkgeld erhalten, wird das bisher vom Arbeitslosengeld abgezogen. Zu Unrecht, so das Bundessozialgericht.
Geklagt hatte eine Frau aus Niederbayern, die als ausgebildete Fachkraft in der Gastronomie arbeitete. 2014 musste sie nach einer Hüft-Operation aussetzen und bezog in dieser Zeit ALG II. Anfang 2015 konnte sie wieder für einzelne Schichten bei ihrem Arbeitgeber, einem kleinen Wirtshaus, einspringen. Sie verdiente pro Monat 147 Euro und erhielt nach eigener Schätzung 25 Euro Trinkgeld dazu, macht zusammen 172 Euro.
Da Hartz IV-Empfänger:innen nur 100 Euro monatlich ohne Anrechnung hinzuverdienen dürfen, kürzte das Jobcenter Deggendorf das ALG II der Frau, das damals bei rund 400 Euro lag, um 72 Euro.
Die Frau sah aber nicht ein, warum sie das Trinkgeld nicht behalten darf und klagte. Tatsächlich war die Frage bisher weder gesetzlich geregelt noch höchstrichterlich entschieden. Zunächst verlor die Klägerin aber beim Sozialgericht Landshut und beim Landessozialgericht München. Trinkgeld sei Teil des Erwerbseinkommens und daher anzurechnen, hieß es.
„Wer nicht zufrieden ist, verzichtet eben auf ein Trinkgeld“
So argumentierte vor dem Bundessozialgericht auch Liane Leske, die das Jobcenter Deggendorf vertrat: „Die Kunden geben Trinkgeld, weil sie wissen, dass in der Gastronomie und beim Friseur nicht viel verdient wird“, so Leske, „das Trinkgeld soll dazu dienen, dass die Empfänger ihren Lebensunterhalt sichern können.“
Das sah Gönül Konuksever, die Anwältin der Klägerin, ganz anders: „Das Trinkgeld ist kein Arbeitseinkommen, sondern ein Geschenk.“ Die Kunden zeigten damit ihre Dankbarkeit. „Mit dem Trinkgeld bedanke ich mich für die Freundlichkeit des Service, die Schnelligkeit der Bedienung oder ich gebe etwas, weil mir das Gesicht der Kellnerin gefällt.“
Seit Einführung des Mindestlohns müssten die Kunden auch nicht mehr davon ausgehen, dass der Lebensunterhalt der Servicekräfte nur mit Hilfe von Trinkgeldern gedeckt werden kann.
Im Ergebnis folgte das Bundessozialgericht nun überwiegend der Klägerin. „Trinkgelder sind kein Erwerbseinkommen“, sagte die Vorsitzende Richterin Sabine Knickrehm, „denn das Trinkgeld zahlt der Kunde und nicht der Arbeitgeber.“ Trinkgelder seien auch freiwillig. Es gebe keine sittliche Pflicht, Trinkgeld zu bezahlen. „Wer nicht zufrieden ist, verzichtet eben auf ein Trinkgeld“, so die Richterin.
Laut Sozialgesetzbuch II müssen Zuwendungen, die ohne rechtliche und sittliche Pflicht bezahlt werden, nicht auf das ALG II angerechnet werden – soweit die Hilfsbedürftigkeit im wesentlichen bestehen bleibt. Die Grenze ist gesetzlich nicht definiert. Das BSG setzte sie nun bei zehn Prozent des Hartz IV-Regelsatzes an. Das heißt: derzeit können Hartz IV-Empfänger Trinkgelder von bis zu 44.90 Euro pro Monat ohne Anrechnung behalten.
Relevant ist das Urteil für alle Hartz IV-Empfänger, die sich ab und zu etwas hinzuverdienen (können). Wer gar nichts verdient, bekommt auch kein Trinkgeld. Und wer viel verdient, ist nicht bedürftig und bekommt kein ALG II.
Die Klägerin, die heute Mitte 40 ist, bekommt nun vom Jobcenter Deggendorf rund hundert Euro nachbezahlt. Sie selbst war in Kassel nicht anwesend. Nach der Genesung von der Hüftoperation hatte sie jahrelang wieder voll in der Gastronomie gearbeitet und ihr eigenes Geld verdient. In der Coronakrise wechselte sie die Branche und fährt jetzt für die Caritas Essen aus. Az.: B 7/14 AS 75/20 R
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