Bürgerrat Ernährung: Vier Personen, neun Euro, kein Käse
Das Beratungsgremium mit ausgelosten Teilnehmenden soll ein Gutachten über Ernährungspolitik erstellen. Ergebnisse soll es schon bald geben.
Holger Dehnhardt, Bürgerrat
„Mit so wenig Geld dürfte es auf die Dauer schwierig sein, gesundes Essen zuzubereiten“, sagt Holger Dehnhardt. Das Experiment, an dem er mitwirkte, ist ein Teil des „Bürgerrats Ernährung im Wandel“. Erstmals tagt ein solches Gremium offiziell beim Bundestag. Die 160 Teilnehmenden wurden dafür aus der Bundesbevölkerung ausgelost – nicht gewählt.
Von der zufällig zusammengesetzten Versammlung erhofft sich die Politik Ratschläge aus dem Alltag – jenseits der ritualisierten Konflikte. Der Auftrag lautet: „Der Mehrwert des Bürgerrates für den Deutschen Bundestag besteht darin, ein genaues Bild zu bekommen, welche Maßnahmen die Bürgerinnen und Bürger für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung wünschen, oder welchen Beitrag sie selbst dafür bereit sind zu leisten.“
Seit ihrer ersten Sitzung Ende September treffen sich die Bürgerräte regelmäßig persönlich oder online. Hinzu kommen Diskussionsphasen in wechselnden Kleingruppen. Die Veranstaltungen sind vollgestopft mit Programm. Manche Teilnehmende schnaufen angesichts der Fülle der eingespeisten Informationen.
Testkauf im Supermarkt
Zahlreiche Expertinnen und Experten erklären beispielsweise in Vorträgen, wie Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie und Handel funktionieren, welchen Einfluss der Staat nimmt, und wie sich die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung ändern. Außerdem haben die vom Bundestag beauftragten Durchführungsorganisationen einige Vorort-Termine organisiert – etwa den Testeinkauf im Supermarkt oder Besuche in Betriebskantinen, die täglich Tausende Essen für Beschäftigte kochen. Nach viermonatiger Debatte wird der Bürgerrat Anfang 2024 sein Gutachten mit Empfehlungen an die Politik präsentieren.
Journalist:innen dürfen an manchen Sitzungen teilnehmen, nicht aber über die Inhalte der Debatten berichten, bevor das Gutachten fertig ist. Begründung: Die mediale Spiegelung soll die Diskussionen nicht beeinflussen. Wird der Bürgerrat ein Recht auf Bratwurst fordern oder sich für die Verteuerung des Fleischkonsums mittels Steuern einsetzen? Antworten auf solche Fragen darf man ab dem 14. Januar erwarten.
Etwas Ärger gab es auch schon. Einer der ausgelosten Teilnehmer aus dem Südwesten Deutschlands fühlte sich durch eine Moderatorin ungebührlich beeinflusst. Die Diskussionsleiterin hatte früher für die Grünen kandidiert. Während der Kritiker das Gremium aus Protest verließ, erklärte die Pressestelle des Bundestages, die Neutralität der Moderatorin bei ihrer Tätigkeit im Bürgerrat stehe nicht in Frage. Weitere Vorwürfe dieser Art seien nicht bekannt. Regelmäßige Befragungen der Teilnehmenden ergaben laut Bundestag, dass der größte Teil mit der Moderation zufrieden war.
Teilnehmer Holger Dehnhardt, Software-Spezialist und Musiker aus Berlin, hat nicht den Eindruck, dass man ihn in die eine oder andere Richtung indoktrinieren wolle. Die Informationen durch Expertinnen und Experten sowie die unterschiedlichen Einschätzungen der Teilnehmenden ergäben ein „gutes Abbild der Gesellschaft“. Während der Sitzungen trifft der Berliner durchaus auf Leute, die seine Vorliebe für eher fleischlose Ernährung nicht teilen. Und bei diesen biss er mit seinen Argumenten auch mal auf Granit.
Abgeordnete hoffen auf pragmatische Ratschläge
„So ist das in der Demokratie“, sagt er. Wobei Dehnhardt die Debatten „weniger polarisiert“ wahrgenommen hat, als sie in der medialen Öffentlichkeit oft vorgeführt würden. Die Atmosphäre im Bürgerrat beschreibt er als „tolerant“, die Teilnehmenden überwiegend als „motiviert, interessiert und auch offen für Sichtweisen, die nicht ihre eigenen sind“.
Vielleicht wird das Gutachten so auch den Erwartungen gerecht, die gemeinhin mit dieser neuen Form der Partizipation verbunden sind. Die Mehrheit des Bundestages erhofft ausgewogene und pragmatische Ratschläge für die künftige Richtung der Ernährungspolitik, wobei die Entscheidung über Gesetze nach wie vor den gewählten Abgeordneten vorbehalten bleiben soll.
Manche Abgeordnete von Union und AfD sehen das zwar anders – das parlamentarische System brauche keine Ergänzung durch geloste Gremien, heißt es dort. Wenn es gut läuft, kann der erste Bürgerrat beim Bundestag dennoch zum Vorbild für weitere Verfahren dieser Art werden. Nach den bisherigen Planungen soll er nicht der letzte in der laufenden Wahlperiode sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos