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Bürgerrat ErnährungVier Personen, neun Euro, kein Käse

Das Beratungsgremium mit ausgelosten Teilnehmenden soll ein Gutachten über Ernährungspolitik erstellen. Ergebnisse soll es schon bald geben.

Passen Würstchen ins Budget? Gesunde Ernährung – so oder doch anders? Im Bürgerrat Ernährung wird eine Menge verhandelt Foto: Bernd Jürgens/Imago

Berlin taz | Stellen Sie ein Abendessen für vier Personen zusammen, geben Sie aber nicht mehr als neun Euro aus. So lautete der Auftrag an die Testkäufer:innen. Also entschied sich die Gruppe für einen Auflauf aus Spitzkohl und Kartoffeln. Zwiebeln und Sahne lagen auch noch im Rahmen des Budgets. Für den Käse zum Überbacken und einen Salat als Beilage reichten die neun Euro jedoch nicht mehr aus.

Mit wenig Geld dürfte es auf Dauer schwierig sein, gesundes Essen zuzubereiten

Holger Dehnhardt, Bürgerrat

„Mit so wenig Geld dürfte es auf die Dauer schwierig sein, gesundes Essen zuzubereiten“, sagt Holger Dehnhardt. Das Experiment, an dem er mitwirkte, ist ein Teil des „Bürgerrats Ernährung im Wandel“. Erstmals tagt ein solches Gremium offiziell beim Bundestag. Die 160 Teilnehmenden wurden dafür aus der Bundesbevölkerung ausgelost – nicht gewählt.

Von der zufällig zusammengesetzten Versammlung erhofft sich die Politik Ratschläge aus dem Alltag – jenseits der ritualisierten Konflikte. Der Auftrag lautet: „Der Mehrwert des Bürgerrates für den Deutschen Bundestag besteht darin, ein genaues Bild zu bekommen, welche Maßnahmen die Bürgerinnen und Bürger für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung wünschen, oder welchen Beitrag sie selbst dafür bereit sind zu leisten.“

Seit ihrer ersten Sitzung Ende September treffen sich die Bürgerräte regelmäßig persönlich oder online. Hinzu kommen Diskussionsphasen in wechselnden Kleingruppen. Die Veranstaltungen sind vollgestopft mit Programm. Manche Teilnehmende schnaufen angesichts der Fülle der eingespeisten Informationen.

Testkauf im Supermarkt

Zahlreiche Expertinnen und Experten erklären beispielsweise in Vorträgen, wie Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie und Handel funktionieren, welchen Einfluss der Staat nimmt, und wie sich die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung ändern. Außerdem haben die vom Bundestag beauftragten Durchführungsorganisationen einige Vorort-Termine organisiert – etwa den Testeinkauf im Supermarkt oder Besuche in Betriebskantinen, die täglich Tausende Essen für Beschäftigte kochen. Nach viermonatiger Debatte wird der Bürgerrat Anfang 2024 sein Gutachten mit Empfehlungen an die Politik präsentieren.

Jour­na­lis­t:in­nen dürfen an manchen Sitzungen teilnehmen, nicht aber über die Inhalte der Debatten berichten, bevor das Gutachten fertig ist. Begründung: Die mediale Spiegelung soll die Diskussionen nicht beeinflussen. Wird der Bürgerrat ein Recht auf Bratwurst fordern oder sich für die Verteuerung des Fleischkonsums mittels Steuern einsetzen? Antworten auf solche Fragen darf man ab dem 14. Januar erwarten.

Etwas Ärger gab es auch schon. Einer der ausgelosten Teilnehmer aus dem Südwesten Deutschlands fühlte sich durch eine Moderatorin ungebührlich beeinflusst. Die Diskussionsleiterin hatte früher für die Grünen kandidiert. Während der Kritiker das Gremium aus Protest verließ, erklärte die Pressestelle des Bundestages, die Neutralität der Moderatorin bei ihrer Tätigkeit im Bürgerrat stehe nicht in Frage. Weitere Vorwürfe dieser Art seien nicht bekannt. Regelmäßige Befragungen der Teilnehmenden ergaben laut Bundestag, dass der größte Teil mit der Moderation zufrieden war.

Teilnehmer Holger Dehnhardt, Software-Spezialist und Musiker aus Berlin, hat nicht den Eindruck, dass man ihn in die eine oder andere Richtung indoktrinieren wolle. Die Informationen durch Expertinnen und Experten sowie die unterschiedlichen Einschätzungen der Teilnehmenden ergäben ein „gutes Abbild der Gesellschaft“. Während der Sitzungen trifft der Berliner durchaus auf Leute, die seine Vorliebe für eher fleischlose Ernährung nicht teilen. Und bei diesen biss er mit seinen Argumenten auch mal auf Granit.

Abgeordnete hoffen auf pragmatische Ratschläge

„So ist das in der Demokratie“, sagt er. Wobei Dehnhardt die Debatten „weniger polarisiert“ wahrgenommen hat, als sie in der medialen Öffentlichkeit oft vorgeführt würden. Die Atmosphäre im Bürgerrat beschreibt er als „tolerant“, die Teilnehmenden überwiegend als „motiviert, interessiert und auch offen für Sichtweisen, die nicht ihre eigenen sind“.

Vielleicht wird das Gutachten so auch den Erwartungen gerecht, die gemeinhin mit dieser neuen Form der Partizipation verbunden sind. Die Mehrheit des Bundestages erhofft ausgewogene und pragmatische Ratschläge für die künftige Richtung der Ernährungspolitik, wobei die Entscheidung über Gesetze nach wie vor den gewählten Abgeordneten vorbehalten bleiben soll.

Manche Abgeordnete von Union und AfD sehen das zwar anders – das parlamentarische System brauche keine Ergänzung durch geloste Gremien, heißt es dort. Wenn es gut läuft, kann der erste Bürgerrat beim Bundestag dennoch zum Vorbild für weitere Verfahren dieser Art werden. Nach den bisherigen Planungen soll er nicht der letzte in der laufenden Wahlperiode sein.

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11 Kommentare

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  • In einer Zeit, in der "Anreize" geschaffen werden müssen, um schädliches zu beenden (z.B. Vergiftung der Umwelt durch Chemikalien, Massentierhaltung) sicherlich logisch.



    Rein logisch betrachtet, wäre ein Verbot der quälenden Tierhaltung sinnvoller und effektiver. Der Preis dafür würde sich über den Markt regeln. Um dem Argument "... ja, dann käme es aus dem Ausland..." den Wind zu nehmen: mir mehr Personal bei den Veterinärämtern wäre die Einfuhr aus Massentierhaltungen unterbindbar bzw. könnte mit solch hohen Abgaben belastet werden, dass sie sich nicht mehr lohnt.

  • Entscheidend ist die Info, dass dem Bürgerrat Moderation und wissenschaftliche Expertise "zur Seite gestellt" wird. Beides hat sicherlich maßgeblichen Einfluss auf die Ergebnisse. Das wissen die Politiker*innen, die diesen Prozess auf den Weg gebracht haben, haargenau und sicherlich wird man sich im zuständigen Ministerium sehr genau überlegt haben, wen man sich da beratend und moderierend rein holt, damit ja nichts Unerwünschtes bei rauskommt. Dass eine Moderatorin politisch für die Grünen aktiv war, spricht Bände - übrigens auch mit Blick auf die Vergabe solcher Aufträge. Fragwürdig ist zudem, ausgerechnet einen Bürger, der offenkundig dem grünen Milieu zuzurechnen ist, als Kronzeugen für die Unabhängigkeit der Moderation heranzuziehen.

  • Ich versuche immer noch den Sinn zu erfassen.

    Auf Initiative von Politikern wurden irgendwie 160 Leute ausgelost. Diese besuchen jetzt von Politikern ausgewählte Veranstaltungen. Und dann wollen die Politiker von den 160 Leuten wissen, was das Volk denkt?

    Haben die Politiker keine Lust mehr, sich zu ihren Wählern zu begeben und zu fragen?

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      Die Politiker haben Lust mit den Leuten zu sprechen.

      Die Leute haben nur oft keine Zeit und oder Lust sich dabei ausführlich in aller Breite über Ernährung und andere Themen mit Abgeordneten zu unterhalten.



      Außerdem versuchen die Politiker damit ihrer Blase zu entkommen.

  • Und dann?



    Gibt’s sechs Würste weniger oder was?



    Nee, aber noch dazu ein erneutes “Jahrhundertwerk” von dem, was viele ohnehin schon wissen, aus Steuergeldern finanziert, wo doch so viele Kita-Plätze fehlen, Schulen verrotten, usw.



    Am besten, es wird jedem Bundesbürger auf einem Teller serviert, in App-Form für besonders hungrige … Damit hat sich der Fall dann erledigt und die riesigen Warenproduzenten, Agrarkonzerne schöpfen weiter fleißig Subventionen und Gewinne ab und basteln weiterhin riesige Mogelpackungen…

  • Frisch kochen ist bei uns im Haushalt normal. Und die Faszination meiner Kinder für Fastfood kann auch kein noch so gut gemeinter Ratschlag oder Hinweis auf der Verpackung mindern. Da hilft kein Bürgerrat und auch keine Politik. Allerdings sollte jedem Bürger so viel Verantwortung zugetraut werden, seine Ernährung gesund zu gestalten.

    • @insLot:

      Woher wollen Sie wissen, dass die Politik da nicht helfen kann?



      Welche Werbesprüche erlaubt sind, ist seit langem schon politisch geregelt.



      Welche Fleischreste noch in den Burger dürfen und welche zum Tierfutter gehören ist ebenfalls politisch geregelt.



      Ohne all diese Regelungen wäre die Faszination Ihrer Kinder vermutlich noch größer und Ihre Ablehnung gegen das Fast Food ebenfalls.



      So ganz ohne politische Rahmengestaltung wäre es für den Einzelnen nahezu unmöglich, seine Ernährung gesund zu gestalten. Es sei denn wir gehen wieder zurück zur Selbstversorgung (Womit nicht selbst kochen gemeint ist)

  • Der erste Fehler: Der Bürgerrat wird gefragt "welche Maßnahmen" er wünscht. Nicht ob, sondern nur welche. Dabei müßte die erste Frage sein: Soll sich der Staat überhaupt mit irgendwelchen Maßnahmen in die Ernährung der Bürger einmischen?

    • @yohak yohak:

      Der Bürgerrat könnte auch antworten: Keine Maßnahmen erwünscht, um meine Ernährung kümmere ich mich selber.

    • @yohak yohak:

      Da liegt wieder ein Reflex vor, der übersieht, dass es bereits sehr viele "Maßnahmen" zur Ernährung gibt. Und ich denke, es ist eigentlich Konsens bei uns, dass es Regelungen gibt, dass nicht jeder Müll als Nahrungsmittel verkauft werden darf - deshalb gibt es "Maßnahmen", wie z.B. Kontrollen, Gesetze über zulässige Zusatzstoffe, Hygiene etc.



      Ich bin sehr froh, dass sich der Staat in diesem Maße in meine Ernährung einmischt, selbst würde es mich absolut überfordern, die Einhaltung solcher Standards zu überprüfen. Jetzt geht es halt darum, ob und wie solche Maßnahmen noch zeitgemäß sind oder auf neue Entwicklungen oder Erkenntnisse ausgeweitet werden sollen. Finde ich erstmal nicht skandalös...

      • @sjanss:

        Sie schreiben zutreffend, das es bereits Maßnahmen gebe wie z.B. Kontrollen, Gesetze über zulässige Zusatzstoffe, Hygiene etc. Und dann sagen Sie: "selbst würde es mich absolut überfordern, die Einhaltung solcher Standards zu überprüfen." Das ist doch gerade der Punkt: Nicht nur die Einhaltung der Standards ist eine Frage, die nur Fachleute überprüfen können, sondern auch die Frage, ob es neue Erkenntnisse gibt, die eine Änderung der bisherigen Standards notwendig machen. Wie soll denn ein Bürgerrat beurteilen, ob z. B. ein bisher als unbedenklich angesehener Zusatzstoff doch gefährlich ist oder ob bestimmte Lebensmittel "ungesund" seien? Das sind alles Fragen, die einer wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich sind, sodass sich die Frage stellt, ob der Bürgerrat nur deswegen eingesetzt wird, weil die Wissenschaft nicht die von der Bundestagsmehrheit gewünschten Ergebnisse liefert.

        Und Yohak Yohak hat doch recht: Gerade weil es schon zahlreiche Maßnahmen gibt, muss die Frage, ob weitere Maßnahmen erforderlich sind oder nicht, ergebnisoffen gestellt werden. Der Bundestag kann doch nicht als gegeben voraussetzen, dass die von ihm selbst gesetzten Standards und die von ihm selbst getroffenen Maßnahmen unzureichend seien.