Bürgerinitiative in Nordrhein-Westfalen: Strampeln für das Radgesetz
Die Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ fordert neue Radwege in NRW. Der Landtag muss sich jetzt damit befassen.
Die bilden immer wieder Grüppchen um das mintgrüne Lastenfahrrad, das Symanski auf den Bürgersteig gestellt hat und das dort jetzt geduldig für den „Aufbruch Fahrrad“ wirbt, während sie drinnen Milchkaffee und Apfelkuchen bestellt. „Ich bin kein Fahrrad-Nerd“, sagt sie und streicht die braunen Haare aus dem Gesicht, „aber so, wie wir Verkehr organisieren, schüren wir Aggressionen.“ Und Aggressionen mag Symanski nicht. Sie hält sie für unproduktiv.
Die Soziologin arbeitet als Coach, berät Institutionen bei Veränderungsprozessen. „Empathie, Respekt, offene Kommunikation“, sagt sie, „wenn man Veränderung erreichen will, dann damit.“ Und in der Verkehrspolitik sei der Veränderungsbedarf besonders groß. Die Stadt sei doch ein Ort, in dem sich Menschen entspannt begegnen sollen, ungefährdet, in sauberer Luft.
Nötige Unterschriftenanzahl längst erreicht
„Hier gibt es so viel Raum für Träume“, sagt sie. Wieso, fragt sie zum Beispiel, muss man neue Radwege bauen? Es gibt doch Autobahnen. „Das könnten Tummelplätze für alternative Verkehrsmittel sein.“ Eine Träumerin ist Symanski allerdings nicht.
Mit einigen Mitstreitern hat sie die landesweite Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ initiiert. Wenn mindestens 0,5 Prozent der deutschen Wahlberechtigten mit Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen unterzeichnen, muss sich der Landtag in Düsseldorf mit den Forderungen befassen. Also mit der Forderung, den Radverkehr bis 2025 auf 25 Prozent zu erhöhen.
Die etwa 66.000 Personen, die für einen Erfolg nötig waren, hat die Initiative längst erreicht. Tatsächlich sind über 200.000 Unterschriften zusammengekommen, wie der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) und die Intitative Radkomm am Samstag in Köln mitteilten. Am Sonntag sollen diese Nordrhein-Westfalens CDU-Landesumweltministerin Ursula Heinen-Esser überreicht werden.
Konkret fordern sie mit ihrer Unterschrift unter anderem 1.000 Kilometer Radschnellwege für zügiges Vorankommen über weite Strecken, den Neubau von 300 Kilometern überregionalen Radwegen pro Jahr, einen kostenlosen Nahverkehr und mehr Verkehrssicherheit auf Straßen und Radwegen. Denn wie sieht es heute aus mit der Sicherheit auf den Fahrradwegen in NRW, sagen wir, in Essen?
Fahrradfahren in Essen? Absteigen, schieben!
„Wenn Sie von dort kommen und hierhin wollen“, sagt Michael Kleine-Möllhoff grinsend, und zeigt mit dem Finger über die Kreuzung, „wie machen Sie das, ohne Ordnungswidrigkeit?“ Schwierige Aufgabe: Die Nordseite des Essener Hauptbahnhofs ist ein Gewirr aus Straßen, Ampeln und Schildern. Autos sausen um die Kurve, Fahrradfahrer quetschen sich durch Fußgängerhorden. Kleine-Möllhoff, ein großer Mittfünfziger, randlose Brille, lehnt entspannt auf seinem E-Bike, die Arme auf dem Lenker. Abwartend schaut er seiner ortsfremden Rad-Begleiterin beim Überlegen zu. „Absteigen, schieben“, resigniert diese schließlich.
Absteigen und schieben allerdings ist das Letzte, was Kleine-Möllhoff einfällt, wenn es ein Problem für FahrradfahrerInnen gibt. Er ist Vize-Vorsitzender des ADFC in Nordrhein-Westfalen, des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs. Täglich fährt er mit seinem Rad zur Arbeit in die Essener Schulverwaltung, von Duisburg-Bissingheim bis Essen und zurück. Nur strenger Frost hält ihn auf – fehlende Fahrradwege ärgern ihn bloß.
„Ich fahr mal vor“, sagt er also, „und fährt über den roten Fahrradweg in die Hachestraße, nach Westen, Richtung Duisburg, Richtung Radschnellweg Ruhr. Seine Begleiterin strampelt hinterher, Leihrad gegen E-Bike, das ist zwar gemein. Aber immerhin: Am Bahnhof ließ sich problemlos beim Anbieter „Metropolradruhr“ per Smartphone ein Fahrrad leihen, das man beispielsweise in Mülheim zurückgeben kann. Geht das also ganz smart, Fahrradfahren im Ruhrpott? Gibt es eine gute Radinfrastruktur, eine gute Vernetzung mit dem öffentlichen Verkehr? „Nö“, sagt Kleine-Möllhoff, „bislang hat der Autoverkehr Vorfahrt – auch politisch.“
Deshalb ist der ADFC begeistert auf die Initiative der Kölner Polit-Aktivisten um Ute Symanski aufgesprungen. Darum hat auch der ADFC Unterschriften gesammelt, hat ein Jahr lang getrommelt für ein Fahrradgesetz in NRW. Vorbild für die Initiative war, wie in so vielen Städten, Berlin. Dort sammelte die Organisation „Changing Cities“ innerhalb von drei Wochen über 100.000 Unterschriften für eine Verkehrswende. So erfolgreich waren die Radbegeisterten in NRW wohl nicht. Warum nicht? Weil Rheinländer, die Leute im Ruhrpott, Siegerländer oder Westfalen halt Autoenthusiasten sind? Oder weil hier, an der Grenze zu den fortschrittlichen Niederlanden, sowieso alles in Richtung Fahrrad zeigt?
NRW-Städte regelmäßig auf Platz 1
Beim regelmäßigen Ranking der deutschen Städte durch den ADFC schneiden NRW und dort speziell das Münsterland auf jeden Fall gut ab. Im aktuellen „Fahrradklima-Test“, an dem 170.000 Menschen teilgenommen haben, landete die Stadt Bocholt an der Grenze zu den Niederlanden in der Kategorie der Kommunen von 50.000 bis 100.000 Einwohner auf Platz 1. Bei den Orten bis 20.000 Bewohnern machten Wettringen und Heek die Plätze 2 und 3. Und mit dem kleinen Örtchen Reken, gelegen im Südmünsterland nördlich des Ruhrgebiets, stellt NRW gar den aktuellen Sieger im „Fahrradklima-Test“.
Demnach lässt es sich nirgendwo besser radeln als in dieser knapp 15.000 Einwohner zählenden Gemeinde, zusammengesetzt aus den Dörfern Groß Reken, Maria Veen, Bahnhof Reken, Klein Reken und Hülsten. Egal, ob Sicherheit, Infrastruktur oder Komfort: Mit der schulnotenähnlichen Bewertung von 1,97 schneidet Reken besser ab als alle anderen 682 Konkurrenten deutschlandweit.
„Wir tun seit 40 Jahren einiges fürs Fahrrad“, sagt Bürgermeister Manuel Deitert. Elf Radrouten rund um Reken liefert der Tourenplaner, der die Gemeinde als „Paradies für Radwanderer“ beschreibt. Außerdem schwärmt der 40-jährige Christdemokrat von den 20 bis 25 Kilometer langen „After Work“-Radtouren, die MitarbeiterInnen seiner Verwaltung zweimal im Monat auf neuen Strecken austüfteln. „Da fahren jedes Mal 20 bis 30 Leute mit.“
Allerdings: Vollwertiges, das Auto ersetzendes Verkehrsmittel ist das Fahrrad in Reken trotzdem nicht. Der Dorfverbund mit seiner Masse an neuen Einfamilienhäusern ist typisch für das Münsterland, wo viele für den Weg zur Arbeit etwa im Ruhrgebiet oder sogar im Rheinland bis hinunter nach Köln aufs Auto setzen, räumt Deitert ein. Am Bahnhof werden laut Statistik des zuständigen Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) an Wochentagen dagegen nur 200 Ein- und Aussteiger gezählt.
A 31, A 43 und A 3 ständig verstopft
Der Großteil der 4.400 Rekener Pendler dürfte sich also einreihen in die kilometerlange Blechkolonne, die jeden Werktag zwischen sieben und neun zuverlässig die nach Süden führenden Autobahnen A 31, A 43 und A 3 verstopft. Der Verkehrsinfarkt – längst lähmt er das Bundesland. „Wir brauchen eine ganz neue Mobilitätskultur“, sagt Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender der Emschergenossenschaft; diese organisiert im Ruhrgebiet die Wasserversorgung von über zwei Millionen Menschen – und pflegt, entlang von Ruhr und Emscher, auch zahlreiche Radwege. Aber nicht nur deswegen hat sich auch die Genossenschaft am „Aufbruch Fahrrad“ beteiligt und den Volksentscheid unterstützt.
„Die Menschen im Ruhrgebiet sind es leid, im Stau zu stehen“, sagt Paetzel, „sie erwarten neue Antworten.“ Immer mehr und immer breitere Autostraßen lösten das Problem nicht, das werde jetzt quer durch alle Parteigrenzen diskutiert. „Wir haben in der Umweltpolitik ja kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem“, so Paetzel. Die größten Handlungsspielräume sieht er auf Ebene von Ländern und Kommunen. „Hier können wir konkret umsteuern“, sagt er.
In Reken versuchen sie das auch per Steckdose. Im Nahverkehr und in der Freizeit habe der Erfolg der Elektrofahrräder mehr Menschen aufs Fahrrad gebracht, erzählt Bürgermeister Deitert. Denn rund um Reken ist das Münsterland entgegen allen Klischees ziemlich hügelig. Aufgeladen werden können die E-Bikes an zwölf Stationen. „98 Prozent der Räder, die ich verkaufe, sind E-Bikes“, bestätigt auch Peter Schröder, der im März in Groß Reken einen Fahrradladen aufgemacht hat – der führende Elektromotor-Hersteller Bosch habe mittlerweile Lieferzeiten von bis zu einem Jahr.
In Elektromobilität investiert hat auch die Gemeindeverwaltung. Zum Stückpreis von 1.800 Euro hat die Gemeinde 28 Pedelecs angeschafft, deren Höchstgeschwindigkeit auf 25 Stundenkilometer begrenzt ist. Für Menschen mit Handicap steht ein vierrädriges Spezialrad für 7.000 Euro bereit. Gemietet werden können die E-Bikes für einen Tagespreis von 20 Euro – Reservierung ist allerdings Pflicht. Geschmerzt hat die Investition von knapp 60.000 Euro nicht. Reken ist eine von nur elf schuldenfreien Kommunen in ganz Nordrhein-Westfalen. Grund dafür sind auch geringe Sozialausgaben: Mietwohnungen, gar für Arbeitslose, haben Seltenheitswert. Wer sich kein Eigenheim leisten kann, bleibt in der Großstadt.
Keine Radwege im Dorfkern
Eine Frage will Bürgermeister Deitert trotzdem nicht beantworten: Wie viel Geld Reken in Radwege investiert, sagt er nicht. Kein Wunder – gerade in den ruhig wirkenden Dorfkernen gibt es keine. Rund um die Hauptstraße von Groß Reken, die mit Bäckerei, Apotheke, Sparkasse, Fahrradladen und Kneipe so etwas wie die Einkaufsmeile ist, gilt dagegen Tempo 20. „Das ist fast so etwas wie ‚shared space‘, wo jedes Verkehrsmittel gleichberechtigt ist“, freut sich Andreas Bittner.
Der Vereinskollege von Kleine-Möllhoff ist Vorsitzender des ADFC-Kreisverbands Münsterland. Für eine Tour über die Dörfer ist Bittner aus Münster mit dem Bus nach Reken gekommen. Sein Faltrad galt dabei als Gepäck und wurde kostenlos transportiert. Und tatsächlich zeigen sich die AutofahrerInnen nicht nur im Ortskern von Groß Reken auffallend rücksichtsvoll, bremsen für Fahrräder und signalisieren winkend, dass sie freiwillig auf Vorfahrt verzichten wollen. „Sicher, schnell, komfortabel – und kommunikativ“ könnten RadlerInnen hier unterwegs sein, lobt Bittner – „so wie wir vom ADFC es fordern“.
„Auch die Radwege und die Beschilderung zwischen den einzelnen Ortsteilen sind gut“, findet der ADFC-Kreisvorsitzende. Dass eine kleine Gemeinde wie Reken RadfahrerInnen leichter zufrieden stellen kann als eine Großstadt, ist dem Mann aus Münster dabei natürlich klar – in seiner in der Kategorie der Städte bis 500.000 Menschen von Karlsruhe vom Thron gestoßenen einstigen Fahrradstadt Nummer eins fehlen nicht nur Tausende Rad-Parkplätze. Auch um das Ende der Radweg-Benutzungspflicht, um fehlende Rücksicht von AutofahrerInnen selbst in Fahrradstraßen, um mangelnde Falschparkerkontrollen wird in Münster erbittert gestritten.
300.000 Euro für einen Radweg
In Reken dagegen gibt es an den großen Ausfallstraßen relativ breite, auch zum Überholen geeignete asphaltierte Radwege, die nur wenige Schäden durch angehobene Baumwurzeln haben. Finanziert wurden die aber nicht von der Gemeinde, sondern vom landeseigenen Baubetrieb, dem „Straßen.NRW“. Für mehr als 300.000 Euro will er ab September eine der letzten großen Radweglücken zwischen den Ortsteilen Groß Reken und Bahnhof Reken schließen.
Allerdings – wie bei den als Fahrradstrecken genutzten, in den Siebzigern fast durchgängig asphaltierten landwirtschaftlichen Wirtschaftswegen profitiert Reken hier von der Vergangenheit. „Im Zeitraum von 2013 bis 2018 sind im Gebiet der Gemeinde Reken keine Investitionen im Radwegebau an Bundes- oder Landesstraßen getätigt worden“, sagt Straßen.NRW-Sprecherin Susanne Schlenga.
Grund für ein besonderes Engagement für ein NRW-Radgesetz war das in Reken aber nicht. Wer für die Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ unterschreiben wollte, musste schon in die Nachbarstädte Haltern am See oder Borken fahren: In Deutschlands Fahrradhauptstädtchen fand sich keine eigene Sammelstelle.
Dabei lässt sich auch in Reken nicht komplett aufs Auto verzichten. Die Lehrerin Gundula Homann hat es versucht. Als „Radel-Star“ der Gemeinde hat die Grüne, die 2017 als Landtags-Direktkandidatin antrat, ihren Autoschlüssel drei Wochen bei der Verwaltung abgegeben – und so versucht, Werbung für umweltfreundliche Mobilität zu machen. Auch Homann lobt die Fahrrad-Verkehrserziehung schon an Grundschulen, das Engagement der VerwaltungsmitarbeiterInnen, den Bau von neuen Schutzhütten entlang der guten Radstrecken. „Auf das Auto könnte ich hier nicht verzichten“, sagt die gebürtige Dortmunderin trotzdem.
Letzter Bus um 21.23 Uhr
Der Grund: der fehlende Nahverkehr. „Der letzten Zug fährt abends um 21.23 Uhr“, erklärt Homann. Aus Münster geht der letzte Bus um 22.30 Uhr. „Ohne Auto kann man hier nur leben, wenn man im Dorf bleibt“, lautet ihr Fazit – „Theater- oder Kinobesuche etwa sind kaum möglich.“ Bürgermeister Deitert hofft deshalb auf die Bahn. Ende 2019 soll ein neuer Haltepunkt im Ortsteil Klein Reken eingeweiht werden, und die Nordwestbahn wird dann erstmals bis in die Ruhrgebietsmetropole Essen durchfahren – das lästige Umsteigen in Dorsten soll entfallen.
Am bestehenden Bahnhof Reken will Deitert deshalb geschlossene, abschließbare Einzel-Fahrradboxen aufstellen lassen. Allerdings: Die Triebwagen der Bahn können maximal 8 Fahrräder mitnehmen. Und auf mehr Züge auch in den Abendstunden werden die Rekener noch lange warten müssen. „Eine Ausweitung des Angebots“, sagt VRR-Sprecher Dino Niemann, „ist nicht geplant.“
In Köln hat Ute Symanski inzwischen ihren Apfelkuchen verspeist, es dämmert, ihr Fahrrad steht vereinsamt im Regen. „Ich glaube nicht, dass jetzt alle PolitikerInnen nun radikal umdenken“. Der wichtigste Erfolg sei: All die Menschen, die sich beim „Aufbruch Fahrrad“ engagiert hätten, die Unterschriften gesammelt, Treffen organisiert, neue Gleichgesinnte kennen gelernt hätten – die seien jetzt Teil einer Bewegung, glaubt Symanski, und die könne ihre Kraft künftig entfalten.
Im nächsten Jahr gibt es Kommunalwahlen in NRW, die Gemeinderäte werden neu bestimmt. „Dann wissen die Leute, wer die Radwege für ihre Kinder sicherer macht, wer sich für einen besseren Öffentlichen Verkehr einsetzt, wer nach vorne denkt – und wer nicht.“
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