Buch zum Sterben der Tageszeitungen: Verlorene Illusionen
Der Feuilletonist Michael Angele beschreibt die Leiden der Zeitungssüchtigen in seinem Buch „Der letzte Zeitungsleser“.
Schon der mittig gesetzte schmale Satzspiegel dieses kleinformatigen Werks soll wohl die normale Spaltenbreite von Zeitungsartikeln widerspiegeln. Das Büchlein ist von der Art eines Breviers und wünschen könnte man sich, dass es wie Ende des 14. Jahrhunderts zu einem der libri caudati mutiert, jenen Beutel-Büchern, die man an einer Schlaufe hängend am Gürtel trug.
Stets griffbereit, konnte man jederzeit daraus vorlesen. Diese Bücher hatten in der Regel eine enorme Verbreitung, die man Michael Angeles anregenden Gedanken über die Befindlichkeit heutiger Zeitungsleser nur zu gerne wünscht.
In wohltuend unprätentiöser Weise resümiert hier ein journalistischer Vollprofi seine persönlichen Wahrnehmungen über die Rezeption der allseits im Untergang gesehenen Printmedien. Zwar mutet seine Gedankenführung zuweilen wie eine abzuarbeitende Stoffsammlung an, was aber nicht stört, weil er die Problemkreise mit viel Charme und eben sehr subjektiv referiert.
Leitstern ist die versunkene Welt des obsessiven Zeitungslesers Thomas Bernhard, dessen Suche nach einer Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung mit einer Kritik des Mozart’schen Opern-Fragments „Zaide“ ihn über 350 Kilometer hinweg quer durch Oberösterreich führte. Das war 1968, wenig erstaunlich, dass es danach mit den Zeitungssüchtigen eigentlich nur bergab gehen konnte.
Ein Stück Heimat und ihr Gegenteil
Wir seien dabei, „ein Glück zu verspielen“, als Informationssüchtige, Kommunikationssüchtige suchen wir Befriedigung in Teilaspekten, eine Zeitung sei aber mehr. Derlei Aperçus bettet der Autor geschickt in seine täglichen Leseabläufe mit bis zu 15 (!) Zeitungen.
Michael Angele: „Der letzte Zeitungsleser“. Galiani, Berlin 2016, 153 Seiten, 16 Euro
Angele weiß, wovon er spricht. Früher las man eine Zeitung, um sich zu informieren, das ist heute nicht mehr nötig. Gleichzeitig war sie „Zugang zur Welt, ein Stück Heimat und ihr Gegenteil, wenn sie den Blick weitete“… „die Zeitung ist immer noch etwas von alledem, aber all das verschwindet langsam, weil sie selbst verschwindet.“
Seiner Conclusio, dass damit auch eine ganze Kultur verschwindet, gewährt er nur wenige Sätze. Doch dieses Breviatorische hat seinen Reiz, weil es den (Buch-)Leser eben nicht an die Hand nimmt und führt, sondern ihn mit höchst persönlichen Wahrnehmungen glaubhaft konfrontiert.
Lesen am Wochenende
Angele listet in gleicher Weise, also nur in wenigen Sätzen, alle nur erdenklichen Topoi, die eine Zeitung ausmachen, auf. Das Wissen, das Wundern, die Anregung, das Aufregen, sie alle werden behutsam in ihrem Bedeutungswandel referiert. Die Frage, wie man als Zeitungsmacher darauf reagieren soll beziehungsweise neue Leserzielgruppen gewinnen kann, kommt zu kurz.
Die Angst kann sie jederzeit einholen. In der U-Bahn, am Schreibtisch, im Café. Wie unsere Autorin lernte, ihre Angst zu lieben, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 13./14. August 2016. Außerdem: Um Bio-Eier möglichst günstig zu produzieren, nutzen einige HalterInnen alle Grauzonen der EU-Richtlinien. Wie viel bio steckt im Öko-Ei? Und: Die Türkei zwischen "Säuberung" und Märtyrerverehrung. Pınar Öğünç über eine Gesellschaft, in der sich eine Hexenjagd-Atmosphäre einzurichten scheint. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Es bleibt bei Hinweisen auf verlegerische Gegenstrategien wie Rubriken mit Erklärungshilfen, Simplifizierung, Rücksichtnahme auf Trends wie Stil, die Seite Gesellschaft wird zur Seite Leben; die Kulturkritik weicht zugunsten der Persönlichkeitsdarstellung.
Auch dieser Autor glaubt an die Zukunft der Wochenend-/Wochenzeitungen, nur sie werden überleben. Dabei verschließt er sich keineswegs Wertungen, so er beispielsweise das Feuilleton des Neuen Deutschlands als das beste unter den Tageszeitungen einschätzt. Blass bleibt die Geschichte der großen deutschen Zeitungen und ihrer legendären Verdienste mit der Aufklärung diverser Affären (Spiegel-Affäre), Interventionen der Feuilletons (Historikerstreit), Erkenntnisse der investigativen Redaktionen (Panama Papers). Immerhin sind sie imstande, einen Gesinnungswandel zu produzieren.
Wegmarken des deutschen Journalismus wie Erich Kuby tauchen nur am Rande auf oder gar nicht (Herbert Riehl-Heyse), obwohl sie noch heute „stille Bewunderung“ erfahren. Zu kurz kommt das Plädoyer für eine zeitgemäße Zeitungsessayistik, die eben nicht nur aus der heute üblichen phänomenologischen Ebene her argumentiert, sondern komplexer, was nicht heißt, für die Leser unansprechender.
Insofern das Primat des Internets als „große Erzählung der Welt …, als Wahrheit der Welt“ durchaus dahingestellt werden kann. Das wird schon unterlaufen durch das Narrativ der Lokalzeitungen. Mit anderen Worten, Möglichkeiten der Zeitungen, sich anders zu artikulieren, sind längst noch nicht ausgeschöpft.
Gelassen verweist Michael Angele auf Balzacs Romantrilogie „Verlorene Illusionen“, die von der Massenpresse, der vierten Macht und dem Niedergang des Journalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzählt. Genauso sei es heute noch, geändert habe sich nichts. Mehr so Beutel-Bücher!
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