Buch über radikalisierte Ältere: Wenn Mama den Familienchat flutet
Seit der Pandemie wenden sich viele Ältere Verschwörungsideologien zu. Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann geben Tipps für Angehörige.

Ein Mann, 41, wendet sich an eine Beratungsstelle. „Meine Mutter war eigentlich immer grün. Mit 61 Jahren kam sie in Frührente. Kurz nach Rentenbeginn veränderte sich ihre Welt.“ Stunden habe sie in Onlineforen verbracht, den Familienchat mit Nachrichten geflutet. Im Laufe der Flüchtlingskrise 2015 habe sie zunehmend obskure und menschenverachtende Inhalte geteilt. „Ich muss nicht sagen, was während Corona mit ihr passierte. Sie hat sich endgültig radikalisiert.“ Diskussionen nützten nichts. „Wie kann ein Mensch sich nur so ändern?“
Ein Beispiel von vielen, die im Buch „Abgetaucht, radikalisiert, verloren? Die Generation 50+ im Sog der Filterblasen“ beschrieben werden. Die Autorinnen und Pädagoginnen Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann nehmen darin ein relativ neues Phänomen in den Blick. Lange verband man politische Radikalisierung vor allem mit jungen Menschen. Mit der Pandemie hat sich das verändert, viele Ältere entwickelten ein tiefes Misstrauen gegen den Staat. Beratungsstellen für Verschwörungsideologien berichten, dass sie vermehrt Anfragen von Jüngeren bekommen, die sich Sorgen machen um ihre Eltern.
Was sind die Ursachen für die Radikalisierung jenseits der Lebensmitte? Sarah Pohl leitet die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen in Baden-Württemberg, Erfahrungen der Berater*innen fließen in das Buch ein. Den theoretischen Teil kann man getrost überblättern. Spannend sind vor allem die mehr als 20 anonymisierten Fallbeispiele.
Da ist der 76-Jährige, der sich mit alternativer Medizin beschäftigt und zunehmend eine pharmakritische, staatsferne Haltung entwickelt. Der Witwer, der am Stammtisch über Ausländer zu schimpfen beginnt und in Chatgruppen Halt und Gleichgesinnte findet. Die 68-Jährige, die nach Paraguay auswandert, sich einer Gruppe anschließt und nach Konflikten wieder nach Deutschland zurückkehrt.
Jeder Fall ist anders, und doch werden Muster erkennbar. Krisen und Brüche begünstigen eine Radikalisierung offenbar. Der Eintritt ins Rentenalter kann zu Selbstzweifeln führen, der Tod der Partner*in zu Isolation. Verschwörungserzählungen verleihen dem Leben dann einen scheinbar neuen Sinn und schaffen Zugehörigkeit. Gesundheitsthemen werden im Alter wichtiger, auch Alternativmedizin und Esoterik können ein Einstieg sein ins Verschwörungsdenken. Rentner*innen haben zudem schlicht viel Zeit, um sich im Netz zu verlieren, fehlende Medienkompetenz kann das Problem verstärken.
Pohl und Wiedemann betrachten die Radikalisierung Älterer als Teil eines biografischen Puzzles. Darauf, welche gesellschaftlichen Ursachen dazu geführt haben, dass so viele während der Coronazeit Vertrauen in Staat und Medien verloren haben, gehen die Autorinnen nicht weiter ein. Der Band ist vor allem ein Ratgeber für betroffene Angehörige.
Was also können betroffene Töchter und Söhne tun? Pohl und Wiedemann betonen, wie wichtig es ist, auf die eigenen Grenzen zu achten. Sie geben Tipps zur Gesprächsführung. Inhaltliche Diskussionen bringen häufig nichts, so ihre Erfahrung. Die Autorinnen empfehlen, den Kontakt zu halten und nach anderen Möglichkeiten zu suchen, um Sinn und Zugehörigkeit zu schaffen. Hobbys können helfen, gärtnern, reisen. Oder ein Haustier: Wer mit dem Hund Gassi geht, hat weniger Zeit fürs Netz. So banal das klingen mag, es leuchtet ein. Werden andere Themen wichtiger, bleibt für die Verschwörungsideologie weniger Raum. Eine „Heilung“ ist das nicht, aber ein Fortschritt.
Die Autorinnen machen auch auf fehlende Beratungsangebote für Ältere aufmerksam. Fraglich ist allerdings, wie diese die Menschen überhaupt erreichen könnten. Bei der Suche nach Lösungen fehlt im Buch dann doch die Ebene der gesellschaftlichen Analyse: Eine ernsthafte Aufarbeitung der Coronapolitik könnte möglicherweise mehr bewirken als die Einrichtung einzelner Beratungsstellen.
Auch die Situation der Mutter des eingangs zitierten 41-Jährigen veränderte sich mit der Zeit. Sie bekam Probleme mit der Lunge. In der Reha gab es viele Freizeitangebote und schlechten Empfang, so schildert es der Sohn. „Dadurch, habe ich den Eindruck, ist sie wieder etwas zurückgekommen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
AfD im Bundestag
Keine Schlüsselposition für die Feinde der Demokratie
Trumps Kampf gegen die Universitäten
Columbia knickt ein
Daniela Klette vor Gericht
Großes Bohei um Geldraub-Vorwürfe
Letzte Generation angeklagt
Was sie für uns riskieren
„Friedensgespräche“ in Riad
Die Verhandlungen mit Russland sind sinnlos
Illegales Autorennen in Ludwigsburg
Männer mit Mercedes im Kopf