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Buch über „psychische Störungen“Was ist der Mensch?

„Unter Verrückten sagt man du“ heißt Lea De Gregorios Buch über all jene, die als nicht normal gelten. Sie leiden unter „psychischen Störungen“.

Als junge Erwachsene kam Lea De Gregorio in die Psychiatrie. Dort bestimmten andere über sie Foto: Foto: PaulaWinkler/Ostkreuz/SV

Wenn es nach Lea De Gregorios Ärztin gegangen wäre, würden Sie diesen Text nicht lesen. Lea De Gregorio hätte nicht studiert und sie würde heute nicht als Journalistin arbeiten. Sie hätte nicht das Handwerkszeug erworben, um ein Buch über die Probleme der Psychiatrie zu schreiben. De Gregorio hat die Warnung, all das würde sie, die Frau mit der Diagnose, überfordern, in den Wind geschlagen. Vor Kurzem erschien ihr Buch „Unter Verrückten sagt man du“. Es ist die „Geschichte einer Selbstermächtigung“.

Denn als „Verrückte“ ist sie Gegenstand der Analyse und Bewertung anderer, der „Professionellen“ der Psychiatrie, die zum einen oft der Ansicht sind, dass „Verrücktheit“ das Ergebnis genetischer Dispositionen und physischer Ursachen ist, und zum anderen psychotische Episoden als „sinnloses Erleben“ charakterisieren. Ihr Buch beginnt mit ihrer Aufnahme in eine psychiatrische Akutstation in Berlin. Zuvor hatte sie nächtelang nicht geschlafen, weil sie so viel nachdenken musste.

„Ich war überarbeitet und in dem ganzen Jahr zuvor war viel passiert, mein Kopf quoll über vor Lebensfragen. Alles war getränkt in Gefühlen und ich verstand die Welt um mich herum nicht mehr, alles war anders als sonst. Man könnte sagen, ich steckte tief in einer Lebenskrise, ich hatte Angst und ich hoffte, dass der Mann im Kittel mir weiterhelfen konnte.“ Doch der Inhalt ihrer Episoden stößt auf wenig Interesse.

„Unter Verrückten sagt man du“ beginnt wie ein Memoir, reißt jedoch die Grenzen des Genres sogleich ein. De Gregorio vermittelt den Stand psychiatrischer Theorie und Praxis und philosophiert darüber, was bei bei psychotischen Episoden geschieht.

Das Buch

Lea De Gregorio: „Unter Verrückten sagt man du“. Suhrkamp, Berlin 2024. 297 Seiten, 20 Euro

Sie fragt vorsichtig, ob es Verbindungslini­en gibt, die heutige Psychiatrie mit der NS-Wissenschaft, der „Rassen­hygiene“ und dem Sozialdarwinismus verbinden, und diskutiert Ideen und Vorschläge, die in den psychiatriekritischen Betroffenenbewegungen der vergangenen Jahrzehnte entwickelt worden sind. Sie kämpft gegen die Stigmatisierung von Menschen, die zu Nichtnormalen gemacht werden, eignet sich den Begriff des „Verrücktseins“ an. Sie sucht bei Denkern Rat, lässt Wissenschaftler und Psychiatrieerfahrene zu Wort kommen.

Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft

De Gregorio kommt zum Schluss, dass es darum gehen muss, „das Thema Psychiatrie vom Rand in die gesellschaftliche Mitte zu holen und ‚psychische Störungen‘ bzw. ‚auffälliges Verhalten‘ nicht als Abnormalität zu bewerten, sondern – ähnlich wie es auch der Begriff der Neurodiversität ausdrückt, den vor allem viele Menschen mit ADHS und Autismus heute zunehmend als Selbstbezeichnung verwenden – wertfrei als anders als der quantitativ überwiegende Teil der sogenannten Mehrheitsgesellschaft.“

Von „Abnormalität“ kann schon aus statistischen Gründen nicht gesprochen werden. Bundesweit erfülle mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung, hält die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde fest. Wir alle sind also auf die eine oder andere Weise damit konfrontiert.

Solches Anders-Sein erscheint aus De Gregorios Perspektive aber auch nicht als qualitativer Unterschied, sondern vor allem als einer der Intensität, der allerdings – wenn er episodisch auftritt – oft zur Folge hat, dass davon Betroffene Schwierigkeiten haben, sich im im Alltag zurechtzufinden. Das gilt ebenfalls nicht als normal und flößt ihnen wie ihren Angehörigen häufig Angst ein.

Die Psychiatrie übernimmt in der Gesellschaft nicht nur die Aufgabe einer institutionellen Abwehr des Anderen, sondern sie produziere und inszeniere selbst einen angstbesetzten Raum, „eine Drohkulisse, um für alle eine Abschreckung zu sein“, wie der Psychologe Robin Iltzsche schreibt, „um ein Ort zu sein, an dem niemand sein will und von dem alle wegwollen, wenn sie doch mal dort gestrandet sein sollten.“ So nimmt es nicht wunder, wenn sich De Gregorio fragt: „Inwiefern sind wir Verrückten in unserer Gesellschaft bis heute eine unterdrückte Minderheit? Und welche Rolle spielt dabei die Psychiatrie?“

Existenzielle Fragen am ganzen Körper erleben

Eine Antwort gibt der Psychiater Neel Burton: „Dass der Krankheitsverlauf in traditionellen Gesellschaften im Allgemeinen günstiger ist, kann damit zusammenhängen, dass psychische Störungen dort eher als Teil des Lebens und nicht als ein Zeichen von Krankheit oder Versagen betrachtet werden.“

De Gregorio fügt dieser These eine eigene hinzu: „Im Raucherraum bequasselten wir Verrückten die großen Fragen unter uns. ‚Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?‘ Ich glaube, dass es in vielen schweren psychischen Krisen implizit oder explizit um diese vier berühmten Fragen von Immanuel Kant geht, die man, wenn man sie sich während der Verrückung nicht auf dieselbe ratio­nale Weise stellt wie sonst, am ganzen Körper erlebt.“

De Gregorio argumentiert, dass sich auch die Gefühle und Gedanken, die als krank gewertet werden, nicht aus dem Nichts einschlichen, „sondern immer mit Ereignissen, einer Einstellung, einem Bedürfnis, einem Missstand, kurzum: einer Bedeutung zusammenhängen, auch wenn diese sich vielleicht nicht immer gleich erschließt.“

Der Begriff „psychisch krank“ ist schädlich

Der US-amerikanische Psychiater Thomas Szasz geht so weit, die Validität psychiatrischer Diagnosen in Frage zu stellen. Er hält sie für stigmatisierende Abstempelungen, die so formuliert seien, „dass sie medizinischen Diagnosen ähneln, und die auf Menschen angewendet werden, die ihre Mitmenschen irritieren oder nicht passen“.

Der Psychiatrie-Erfahrene Matthias Seibt hält bereits den Begriff „psychisch krank“ für schädlich. Als Begründung nennt er ein Beispiel: „Also da ist jemand Opfer einer Gewalttat geworden und leidet seelisch darunter. Das ist ja eine angemessene Reaktion, wenn es jemandem schlecht geht, warum soll das eine psychische Krankheit sein?“ Doch auch wenn die psychiatrische Definition wegfiele, bliebe doch das Leiden für Betroffene und ihre Familien real.

De Gregorio befasst sich daher auch mit der Frage der Medikation und mit neuen Modellen, mit denen reformorientierte Psychiater Menschen bei akuten Episoden in Umgebungen aufzufangen versuchen, die nicht so angsteinflößend und von Machthierarchien geprägt sind wie Akutstation und Klinik.

Das Thema verletzter Menschenrechte spielt in De Gregorios Überlegungen ebenso eine Rolle wie Diskriminierungen, die sie als intersektional geprägt versteht. Ein muslimischer Mann, der nicht wie ein Akademiker spricht, wird als „psychisch Kranker“ möglicherweise stärker diskriminiert als eine weiße Frau mit Universitätshintergrund.

Immer wieder feiner Humor

Unter psychischen Störungen leiden auch Lehrerinnen, Richter und Psychiater, was Letzteren allerdings nicht den Ruf einträgt, mehr Expertise zum Thema zu besitzen als „gesunde“ Kolleg*innen. Unterdessen werden mancherorts Menschen mit Psychiatrieerfahrung dafür ausgebildet, diese in psychiatrischen Einrichtungen einzubringen.

Neben all dem Negativen, dem Schmerz und der Unterdrückung, die man auf einer Akutstation erleben könne, sei das Charmante an diesen Orten, dass dort alle zusammenkämen. „Man kann dort so vieles über die menschliche Existenz erfahren, auf solch schonungslose und unmittelbare Weise wie sonst vielleicht nirgendwo. Ich habe die Gespräche im Raucherraum der Station später manchmal vermisst“, schreibt De Gregorio, die sich selbst als lebensfroh erfährt.

In ihrem klugen Buch, das sich auch als Handbuch für Betroffene lesen lässt, blitzt immer wieder feiner Humor auf. Sie führt sich und uns vor Augen, wie wenig wir immer noch über das „Verrücktsein“ wissen.

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5 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Angeregt schmunzelnd und nickend plus de ja vue gelesen.

    Wie drückte es mein Analytiker aus: Naja - man muß eine Diagnose hinschreiben - damit die Kasse bezahlt



    &



    Depression ist keine Krankheit - vielmehr lernen Sie einen Teil ihrer Persönlichkeit kennen - den Sie zuvor nicht kannten.



    Spät - weil es Ihnen bis dato gelungen war wie beim Ritt über den Bodensee die Löcher zu vermeiden.



    Jetzt aber sind Sie in das Ihnen adäquate Loch gefallen und sind gezwungen sich damit auseinander zu setzen!“



    The only way out - is throuh!

    ps - daß Administration etc selten gut damit umgehen kann - liegt auf der Hand: abweichendes ist ihr ein Greul!

    Na Mahlzeit

  • Das Buch klingt wirklich interessant. Aktuell ist ja - gerade bei jüngeren Leuten - z.B. die Frage, was die drohende Ökologische Katastrophe mit den Menschen macht - inwieweit es "krankhaft" ist, sich deswegen massive Sorgen zu machen.



    Bei mir war es zuletzt der Druck durch das Jobcenter, unter dem aus einer Depression eine Schizophrenie wurde. Ich war allerdings schon vorher der Überzeugung, das Soziale (Un-)Sicherheit ein entscheidender Faktor ist in Bezug auf "psychische Gesundheit/Störung". Wir haben unlängst dazu einen interessanten Artikel aus dem Spanischen übersetzt, siehe hier: bge-rheinmain.org/...ses-grundeinkommen

    Das mit dem Raucherraum ist allerdings schon bitter. Die hohe Prävalenz des Rauchens unter den Marginalisierten ist sicher ein Faktor bei der Frühversterblichkeit - und wer das Zeug nicht verträgt (wie ich), ist u.U. doppelt ausgeschlossen.

  • Die Normalität der Perversion (Hermann Gremliza) mit ihrer Tradition von Krieg, Gewalt, Lügerei, Umweltverschmutzung gegen jedes bessere Wissen, welche ganz normal auf das Scheitern dieser "Zivilisation" zusteuert, kann kein Kriterium für geistige Gesundheit sein.

  • Interessantes Werk. Es bräuchte wirklich mehr Material aus Sicht von Betroffenen, damit klar wird, dass sie eigentlich in der Regel Menschen sind die nicht weiter auffallen.

    Wer trauert oder einen schweren Schlag erlebt hat ist nicht gleich depressiv, allein das ist schon schwer zu verstehen. Als ich als Jugendlicher eine Gruppentherapie besucht habe war eigentlich der Konsens, dass die "Gestörten" tatsächlich gestört wurden und sich schlecht belügen können. Es gab eigentlich immer eine Form von Gewalterfahrung, auch wenn sie starke Unterschiede aufwiesen. Eigentlich hätten die, die diese Situationen ausgelöst haben, in eine Therapie gehört. Wie eine Ansteckung durch i.d.R. Nichtträger.

    Ich denke schon, dass psychische Einschränkungen und z.B. Autismus meist einen Krankheitswert haben. Das Falsche ist eigentlich, wie auf den Begriff der psychischen Krankheit geschaut wird. Als wenn jemand für eine Grippe beschimpft würde.



    Es sorgt dafür, soziale Kontakte nicht pflegen oder überhaupt herstellen zu können, kürzer zu leben und insgesamt an Lebensqualität zu verlieren; kann auch schmerzen. Ist das gesund? Ich denke nicht.

  • Danke für diese Rezension. Das Buch hört sich sehr interessant an. Ein Stück Empowerment, wenn Psychiatrieerfahrene über ihre Erfahrungen schreiben, solche Bücher sollten eigentlich Pflichtlektüre für Psychiater sein. Der im Text erwähnte Psychiater Szasz ist - das hätte man vielleicht ergänzen sollen - nicht unumstritten. In der Theoriebildung der Psychiatrie und Psychotherapie gibt es immer wieder unrühmliche Extrem-Ansichten, man denke z. B. an Laings Double-Bind Theory, die dem Kommunikationsverhalten der Eltern schuld gab, oder gar die psychoanalytische Vorstellung von der "schizophrenogenen Mutter", die inzwischen zum Glück als überholt gelten. Insofern ist es grundsätzlich schon eine Verbesserung, wenn Psychiater:innen zumindest einen multifaktoriellen Blick haben, wobei - darum scheint es im Buch ja auch zu gehen - immer noch viel zu wenig kulturelle und gesellschaftliche Aspekte und die Patient:innensicht berücksichtigt werden.