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Buch über die Entwickung RusslandsDer Absturz Russlands

Michael Thumann kennt Russland sehr gut. In seinem neuen Buch erklärt er, wie und warum Putin sich wirklich aus Europa verabschiedet hat.

Putins System wurde immer autoritärer – nach innen wie nach außen Foto: Sputnik

Sie ist noch nicht so weit vorangekommen – die Aufarbeitung, was bei der Einschätzung Russlands eigentlich schiefgelaufen ist. Der russische Überfall auf die Ukraine wurde in vielen Ländern als Schock empfunden, Deutschland traf er aber besonders hart. Nicht nur wegen der Abhängigkeit von russischem Gas, sondern auch weil man hierzulande gern in Anspruch nahm, das riesige Land besser als andere zu verstehen.

Allzu oft bedeutete dieses Verstehen aber nur, der zunehmenden Radikalisierung Wladimir Putins mit sehr viel Rücksichtnahme zu begegnen. Russland brauche so jemanden, hieß es. Er garantiere Stabilität. Halbwissen und Klischees über Russland vermischten sich mit deutschen Geschäftsinteressen. Heraus kam „Russland-Kitsch“, der den Blick vernebelte, wie es der Historiker Karl Schlögel formulierte.

Das Buch

Michael Thumann: „Revanche.

Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat.“

C.H. Beck, München 2023, 288 Seiten, 25 Euro

Einen Beitrag zu einem realistischeren Bild liefert Michael Thumann mit seinem Buch „Revanche“. Thuman ist Russland-Korrespondent der Zeit. Seit zwei Jahren lebt er wieder in Moskau, wo er bereits von 1996 bis 2001 und von 2014 bis 2015 arbeitete.

Er hat den Wandel Russlands von einer defizitären Demokratie über eine autoritäre Herrschaft zum immer totalitäreren System der Gegenwart aus nächster Nähe verfolgt. Und er betont den Zusammenhang zwischen innerer Verfasstheit und äußerer Aggression: „Die autoritäre Gewalt im Innern kehrt sich irgendwann in Gewalt nach außen.“

Die wilden 1990er

Thumann mischt in seinem Buch aktuelle Reportage-Elemente und politische Analyse. Dabei blendet er immer wieder in die Vergangenheit, etwa in die wilden 1990er, die heute in Russland als Zeit des Chaos und der Gangster gelten, damals aber vielen Russen ungekannte Freiheiten boten. Er rekonstruiert den gescheiterten Putsch der alten Eliten im August 1991 und beschreibt seine erste Begegnung mit Wladimir Putin 1999. Der sprach damals als Ministerpräsident viel von Demokratie, begann seine Amtszeit aber mit einem brutalen Krieg in Tschetschenien.

In den folgenden Jahren errichtete er als Präsident eine Autokratie mit demokratischer Fassade und einigen Nischen für die Zivilgesellschaft. Als entscheidenden Wendepunkt in Putins Karriere macht Thumann die Massenproteste im Winter 2011/2012 aus. Sie richteten sich gegen seine Rückkehr ins Präsidentenamt nach vierjähriger Pause. Als Folge entdeckte Putin den Nationalismus als Herrschaftsinstrument.

Diese Wende sei keine Reaktion auf mangelnden Respekt des Westens gewesen

Zuvor hatte er zu diesem noch Abstand gehalten. Diese Wende sei keine Reaktion auf mangelnden Respekt des Westens gewesen, wie oft in deutschen Talkshows verkündet, sondern allein der innenpolitischen Krise geschuldet, schreibt Thumann. Russland sei als Land zu groß und unabhängig, als dass es politische Richtungsentscheidungen vom Ausland abhängig mache.

Das zeigt Thumann auch anhand der Nato-Osterweiterung, die besonders in linken Kreisen immer noch gern als Erklärung für Russlands Aggression angeführt wird. Das Land fühle sich eingekreist, der Krieg in der Ukraine sei quasi eine Form der Selbstverteidigung, lautet die verquere Argumentation.

Positive Beziehungen zur Nato

Demgegenüber erinnert Thumann an die zweite Erweiterungsrunde 2004, bei der mit den baltischen Ländern drei ehemalige Sowjetrepubliken der Nato beitraten. Die Erweiterung wurde vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder vorangetrieben.

Kurz nach dem Beitritt der baltischen Länder stand Putin auf einer Pressekonferenz neben Schröder und lobte, dass sich die Beziehungen zur Nato „positiv entwickeln“, er habe keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Förderation. Zur Gefahr erklärte Putin die Erweiterung erst viel später, als er merkte, wie sie sich propagandistisch verwerten ließ.

Anschaulich analysiert Thumann die Säulen von Putins Macht – das Justizsystem mit seinen politischen Urteilen und den Straflagern, das Staatsfernsehen, das den Hass auf den Westen, die Ukraine und alles Abweichende verbreitet sowie die Geschichtserzählungen von imperialer Größe. Es gehe Putin um Revanche für den Zerfall der Sowjetunion. Er sei zu jener imperialen Obsession zurückgekehrt, die Michail Gorbatschow beendet habe, so Thumann.

Eine Obsession, die Putin zum Überfall auf die Ukraine führte. Wer die Vorgeschichte dieses Krieges besser verstehen will, sollte das Buch von Michael Thumann lesen.

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16 Kommentare

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  • Wir sind schon ziemlich gut auf Kapitalismus abgerichtet: Fängt schon im Kindesalter an. Das Leben ist ein Spiel. Das Ziel ist "Wohlstand". Gemessen in Geld, das verschiedene Namen hat. Das neuste sind Kryptowährungen. Wir das meiste davon anläuft, hat gewonnenen. Wir versuchen es mit allen Mitteln uns einreden, das mache glücklich. Auch Drogen nehmen wir daher immer mehr. Wir können uns daher nicht vorstellen, daß es außerhalb der wesentlichen Welt Menschen gibt, die andere Wertvorstellungen haben, die wir natürlich abwerten oder dämonisieren müssen..

    • @Matt Gekachelt:

      Jaja, das dekadente Gayropa und das verkommene, ultrakapitalistische Amerika.

      Wie anders das noch so kraftvoll moralische, von anderen Werten (aber immerhin Werten!) geleitete Russland.

      Übrigens ist genau das der Grund, warum Russland die Existenz der Ukraine nicht dulden kann: denn ein Russland so ähnliches Land darf nicht westlich, demokratisch und pluralistisch werden. Denn dann würde der ganze kremlpropagandistische Schwachsinn von der grundsätzlichen Andersartigkeit Russlands, wegen der man es nicht mit unseren Maßstäben messen dürfe, in sich zusammenbrechen. Auch und gerade in Russland selbst.

      Danke, dass Sie es noch einmal verdeutlicht haben, wenn wohl auch unabsichtlich.

      • 3G
        31841 (Profil gelöscht)
        @Suryo:

        Siehe hier:



        "Russland brauche so jemanden" hieß es - im Westen ...

  • Ein Land, das eine Inneneinrichtung wie die auf dem Photo hervorbringt, kann und darf nicht weiterleben.

    • @Suryo:

      Im Élysée-Palast siehts auch nicht anders aus.

    • @Suryo:

      Sieht aus wie bei Trumps...

  • Ich wünsche mir sowas wie den Nürberger Prozess, wenn Putin tot ist.

    • @Herry Kane:

      Ich sähe ihn gern lebendig auf der Anklagebank.

  • 3G
    31841 (Profil gelöscht)

    >>Russland brauche so jemanden, hieß es.

  • Was mir bei all diesen Analysen fehlt ist, was an der Wurzel dieser "wilden 1990ern" schiefgelaufen ist. Ich denke, da hat Adam Curtis [1] [2] eine Menge beizutragen.

    Wenn ich uns einen Vorwurf mache, dann eher, dass wir damals zugeschaut haben, wie die Überreste der Sowjetunion brutalisieren und in Armut versinken, in einer Hayekschen Dystopie.

    Manche von uns haben sogar die Sektkorken (крымское?) für den Sieg des Kapitalismus knallen lassen und besoffen vom Ende der Geschichte gelallt (der eine hat es immerhin zurückgenommen, spricht für seine Integrität).

    Etwas mehr als 40 Jahre davor hatte man es anders versucht. Die US fanden es eine gute Idee, 5% ihres BIP [3] in die Verhinderung eines solchen Monsterstaates zu investieren.

    Da, meine ich, haben wir vermutlich versagt. Der ganze Quatsch von wegen Provokation durch die NATO halte ich für relativ irrelevant (obwohl da dieses lustige Papier der Rand Corporation gibt, aber da war Russland schon in der Krim).

    Das alles ändert nichts daran, dass es mir unendlichen Kummer macht:

    - dass wir die Rüstungsindustrie mästen: danach wird sie sich nur ungerne auf Diät setzen lassen



    - dass unzählige zwielichtige Figuren diesen Krieg als Plattform für sich missbrauchen

    [1] www.theguardian.co...z-truss-traumazone



    [2] www.theguardian.co...g-from-adam-curtis

    • @tomás zerolo:

      Ein Grund für die unterschiedliche Behandlung von Russland durch den Westen im Vergleich zu Deutschland nach 1945 liegt m.E. im starken Einfluss der neoklassischen Theorien der University of Chicago und des daraus resultierenden Washington Consensus auf das ökonomische Denken der 90'er Jahre (Post-Reagan Jahre). Da waren die ehemalige Sowjetunion bzw. deren Nachfolger eben auch ein gigantisches Experimentierfeld.



      Ich kann mir allerdings auch nicht vorstellen, dass eine (teilweise) Kopie der westlichen bzw. US-amerikanischen Politik a la ‚Aufbau der BRD‘ in Russland Erfolg gehabt hätte. Das hatte bei uns nur geklappt, weil Deutschland 1945 physisch und moralisch komplett am Boden lag, zerstört und besetzt war.

      • 3G
        31841 (Profil gelöscht)
        @TerryX:

        "Experimentierfeld"?



        Ein Versuch in "liberaler" Form umzusetzen, was in Chile zu anderen Zeiten einer Diktatur bedurfte, konnte nur einer mit Hochrisiko sein. Wer bezahlt nun diesen GAU - und wer kassiert?



        Der ehemalige russische Botschafter in Paris verdeutlichte die damaligen Ereignisse in einem Interview (irgendwo auf arte) - die "Elite", die nicht unmittelbar in die riesigen Profite einbezogen war, hat das als Demütigung empfunden. Was nichts rechtfertigt. Aber nicht alle gehen mit dem selben Ereignis gleich um ... Verkennung der Gefahr, dass dies eine Grundlage schaffen konnte, die Putin mit Hilfe nationalistischer Aufladung ummünzen konnte. Warum diese Verkennung?

        • @31841 (Profil gelöscht):

          .... Im Übrigen: nicht GAU, sondern Super-Super-GAU...

        • @31841 (Profil gelöscht):

          Ich denke, dass die Risiken auf westlicher Seite durch die damals Handelnden (Politiker, westliche Berater, IMF etc.) komplett ausgeblendet wurden, auch aus wirtschaftsideologischen Gründen. Den Salat haben wir jetzt.

  • Der Überfall auf die Ukraine ergibt sich zwingend aus der kleptokratischen Natur des Putin-Regimes. Rechtsstaat, Transparenz, Demokratie in der Ukraine bedrohen perspektivisch das kleptokratische Geschäftsmodell Putins und seiner milliardenschweren Spießgesellen. Deshalb muss die Demokratie in der Ukraine sterben. Das klingt natürlich nicht so schön, selbst für russische Ohren. Daher der pseudohistorische, nationalistische, antiwestliche, Anti-Nato-Firlefanz, mit dem das schnöde materielle Motiv camoufliert wird. Putin ist ein Mafiaboss, der seine Pfründe verteidigt, das ist alles.

    • @Michael Myers:

      korrekt ...

      und die narrative der propaganda halten das volk im zaum.

      fragt sich sich nur, wie lange.

      denn von heinrich von kleist haben wir gelernt:



      der krug geht solange zum wasser, bis er bricht ...