Buch über Proteste in Belarus: Die weibliche Massenbewegung
In „Die Frauen von Belarus“ erzählt Journalistin Alice Bota von den Protagonistinnen der Proteste. Doch sie stellt auch unbekannte Frauen ins Zentrum.
Kurz bevor am 9. August 2020 die Präsidentschaftswahlen in Belarus von Machthaber Alexander Lukaschenko gefälscht werden, erscheint eine Kolumne in der Zeit. „Achten Sie auf diese Frauen“ lautet der Titel. Alice Bota, Osteuropa-Korrespondentin der Zeit, schreibt darin über Swetlana Tichanowskaja, eine Hausfrau, die anstelle ihres Mannes gegen Lukaschenko zur Wahl antritt, weil dieser nicht zugelassen und eingesperrt worden ist. Und über deren Mitstreiterinnen Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa, die ebenfalls die Plätze von Männern einnehmen, die nicht gegen Lukaschenko kandidieren durften.
Empfohlener externer Inhalt
Gemeinsam tourte das Frauentrio durch Belarus. Sie sprachen erst vor Hunderten, bald Tausenden Menschen im ganzen Land. Tichanowskaja, Zepkalo und Kolesnikowa wurden zum Versprechen einer politische Alternative in Belarus.
Warum das interessieren sollte?, fragte Bota in ihrer Kolumne damals. „Weil nur 1.100 Kilometer Berlin von der belarussischen Hauptstadt Minsk trennen.“ Und weil das, was in dem kleinen Land mitten in Europa passiere, „Einfluss auf die gesamte Nachbarschaft, auf Polen und Litauen, auf das Verhältnis von Belarus zu Russland – und damit auf die deutsche Politik“ habe.
Seit den gefälschten Wahlen ist nun ein Jahr vergangen. In dieser Zeit kam es zu Protesten und Demonstrationen, an denen Zehntausende Belarus:innen teilnahmen. Tausende Menschen wurden auf den Straßen von vermummten, in Schwarz gekleideten Schlägern der staatlichen Sondereinheit Omon in Autos gezerrt und eingesperrt. Unzählige wurden verletzt, in Gefängnissen misshandelt und gefoltert. Mindestens vier Menschen starben in Zusammenhang mit den Protesten.
Alice Bota: „Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit“. Berlin Verlag, Berlin 2021, 18 Euro.
Stützen des Systems
Dass Lukaschenko in Frauen nur Objekte sieht, sie nicht ernst nimmt, ihnen niemals politische Macht zutrauen würde, wurde ihm später zum Verhängnis. Die Frauen des Trios, Tichanowskaja, Zepkalo und Kolesnikowa nannte er immer nur abwertend „Mädchen“. Sein größter Fehler war es, Swetlana Tichanowskaja zur Wahl zuzulassen, sagt Bota.
Und so konnten Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa innerhalb eines Jahres zu den bedeutendsten Frauen von Belarus werden. Alice Bota hat also recht behalten. Ihnen und all den anderen Frauen dieses Aufstands hat Bota nun ein Buch gewidmet. „Die Frauen von Belarus“ heißt es und erzählt die Geschichte der drei Politikerinnen, die eigentlich nie welche werden wollten. Eine Geschichte, die mehr „wie der Plot einer Netflixserie“ anmutet, wie eine „ausgedachte Politserie“.
Der Aufstand in Belarus war auch weiblich geprägt. Bilder von Frauen in weißen Kleidern, die Blumen in den Händen halten und schwarz gekleidete Sicherheitskräfte umarmen, gingen um die Welt. Die Frauen, so schreibt es Bota, erlangten in diesem Protest erstmals Sichtbarkeit.
Dabei engagierten sich Frauen schon immer. Sie sind die Stütze des Systems: arbeiten im Gesundheitswesen, als Krankenschwestern oder Ärztinnen, sind Programmiererinnen und Maschinenbauerinnen und kümmern sich am Abend um Haushalt und Familie. Sie müssen zupackend sein, robust und gleichzeitig fürsorglich, weich. Ein sehr sowjetisches Verständnis von Weiblichkeit, das sich bis heute in Belarus hält.
Wie feministisch ist die Bewegung?
Botas Buch erzählt nicht nur von den drei maßgeblichen Protagonistinnen Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa. Sie stellt auch die unbekannten Frauen ins Zentrum der Erzählung: „Ärztinnen, Programmiererinnen, Mütter, Lehrerinnen, PR-Managerinnen, Hausfrauen, Feministinnen, die in Belarus oder im Exil leben“.
Rund hundert Interviews hat sie dafür in den vergangenen Monaten geführt, online oder im Ausland, da die Einreise nach Belarus für die Journalistin unmöglich war. Da ist zum Beispiel die junge Ärztin und Mutter Irina, die eigentlich anders heißt, wie alle Interviewpartner:innen in Botas Buch, doch zum Schutz vor dem Regime einen anderen Namen trägt. Irina arbeitet tagsüber in einem Minsker Krankenhaus. Nach Feierabend spricht sie mit Menschen, die in Polizeibussen und Gefängnissen Folter, Erniedrigung, Vergewaltigung oder psychische Gewalt erfahren haben. Zunächst dachte Irina, sie könne aushalten, was ihr erzählt werde. Nun ist sie selbst in psychologischer Behandlung. 27 Gespräche mit Frauen und Männern hat die Ärztin bereits geführt, schreibt Bota. Unzählige Fälle sind noch immer nicht dokumentiert. Aber es reiche, um alles zu verstehen, erzählt die Minsker Ärztin.
Spannend ist auch die Aktivistin Irina Solomatina. Solomatina zeigt sich frustriert darüber, dass Medien die Rolle der Frauen in den Protesten überhöhten. Solomatina kämpft seit Jahren für Gleichberechtigung in ihrem Land, will jedoch in dem jetzigen Aufstand nichts Feministisches erkennen – selbst wenn Frauen wie nie zuvor aktiv und sichtbar für Demokratie eintreten.
Solomatinas Argumenten stellt Bota im Verlauf zahlreiche „Aber“ entgegen. Die Protestbewegung möge noch nicht feministisch sein, aber: Dass Frauen erstmals eine denkbare politische Alternative im Land seien, sich als politische Subjekte verstünden, ihre Macht als weibliches Kollektiv begriffen, all das sei doch der Ausgangspunkt einer jeden feministischen Bewegung, schreibt Bota.
Haft für die Kandidatinnen
Bota hat in ihrer Zeit als Korrespondentin schon viele Proteste und Transformationsprozesse postsowjetischer Staaten begleitet. Sie folgte den Demonstrationen in Moskau, zu denen auch Alexei Nawalny aufgerufen hatte, der derzeit im russischen Straflager sitzt. Sie war dabei, als bei der Samtenen Revolution in Armenien ein friedlicher Machtwechsel gelang. Als der erste Demonstrant bei den Maidan-Protesten in der Ukraine getötet wurde, folgte sie seinem Sarg, schreibt sie. Keine Protestbewegung aber habe sie um den Schlaf gebracht, bis auf Belarus.
Was Bota beeindruckte, war, dass der Aufstand in Belarus eine Massenbewegung war, die alle erfasste, sagt sie. Frauen, Rentner, Studierende, Invaliden, Ärzte und Ärztinnen, Arbeiter, Historiker. Das sei etwas gewesen, das sie so noch nicht erlebt hätte.
Eine Gesellschaft, die 26 Jahre in Apathie gelebt hatte, erwachte. Sie wurde lebendig. Die Menschen traten aus der Vereinzelung heraus und in Kontakt mit den anderen, sagt Bota. „Sie entdeckten sich tatsächlich als Bürger und Bürgerinnen.“ Aus den anonymen Hochhäusern, noch in der Sowjetunion entstanden, wurden plötzlich Nachbarschaften. Auf einmal lernten sich Nachbarn kennen, stellten sich einander vor, organisierten Feste, Konzerte.
Von den drei Frauen, die wider Willen zu Politikerinnen wurden, ist nur noch eine in Belarus: Maria Kolesnikowa. Sie sitzt seit fast einem Jahr in Untersuchungshaft. Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo leben beide im Exil. Gegen Kolesnikowa und ihren Anwalt Maxim Zank begann vergangene Woche der Prozess in Minsk – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Beiden drohen bis zu 12 Jahre Haft.
Keine leichte, aber eine notwendige Lektüre
In einem Video, das kurz vor dem Prozess im Gerichtssaal aufgenommen wurde, sieht man Kolesnikowa tanzen. Sie wirkt fröhlich, voller Zuversicht. Ihre roten Lippen stechen heraus, sie lacht, und formt dann ein Herz mit ihren Händen. Das Symbol, das ikonisch für sie geworden ist. Eine Mitinsassin, die mittlerweile auf Bewährung freigekommen ist, sagte über Kolesnikowa, das schreibt Bota in ihrem Buch, sie habe im Gefängnis die anderen Frauen aufgebaut, sie „dachte positiv, lächelte viel“ und habe Ideen für sie für die Zeit nach der Haft gehabt.
Die Ereignisse in Belarus sind so berührend und beeindruckend, die Gewalt des Regimes ist zugleich verstörend, dass es manchmal schwerfällt zu glauben, dass all dies nur innerhalb eines Jahres passieren konnte. Alice Botas Buch, das dieses eine Jahr und seine Protagonist:innen dokumentiert, ist deshalb keine einfache Lektüre. Aber sie ist zwingend notwendig.
Jedes Gespräch, das Bota für ihr Buch geführt hat, sei in Dankbarkeitsbekundungen geendet, schreibt sie. Dank dafür, dass sie sich für „das Schicksal ihres Landes, für ihren Kampf und ihr Leiden“ interessiere. Belarus:innen wissen, dass ausländische Anteilnahme für sie nicht selbstverständlich ist. Dass für viele Deutsche, beschämenderweise, Belarus bis vor einem Jahr ein unbekanntes Land auf der Landkarte war, vielleicht noch die letzte Diktatur Europas, mehr aber auch nicht.
Nichts sei so entmutigend, so demoralisierend wie das Gefühl, ungesehen und ungehört sein Leben zu riskieren, schreibt Bota. Die Aufmerksamkeit für den Aufstand der mutigen Belarus:innen darf nicht abreißen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour