Buch über Autokraten im Mittleren Osten: Repression und religiöse Militanz
Wie die Autokraten des Nahen und Mittleren Ostens ihre Bevölkerung gefügig machen. Martin Gehlen analysierte die Region als Korrespondent in Kairo.
Wie Hunderttausende in der Region hoffte auch Martin Gehlen auf einen fortschrittlichen Wandel, als 2011 der Arabische Frühling in Tunesien begann. Dort entzündete sich der Funke, bald aber rebellierten auch in Libyen, Ägypten, Syrien und im Jemen die Menschen und gingen für demokratische Reformen auf die Straße. Weltweit wurde ihr Aufschrei verfolgt und erwartungsvoll begleitet.
„Zehn Jahre später“, schreibt Martin Gehlen im Jahr 2020, „ist alle Euphorie verflogen. Der katalytische Effekt des Arabischen Frühlings hat die Zerrüttung der arabischen Welt nur weiter vertieft, so dass ihr Staatengefüge heute am Rande des Zusammenbruchs steht.“ Schaut man sich Syrien, Libyen, den Libanon oder Tunesien an, kann man Gehlen nur zustimmen. „Und niemand kann ausschließen“, schreibt er, „dass es noch weiter bergab geht mit Gewalt, Inkompetenz und Korruption, mit Armut und Arbeitslosigkeit, Polizeiwillkür.“ Im Zentrum dieses Fiaskos stehe der autoritäre Gesellschaftsvertrag, mit dem die arabischen Autokraten ihre Bevölkerung seit Jahrzehnten gefügig halten, meinte Gehlen.
Gehlen mochte die arabische Kultur, aber – so offenbarte er in einem persönlichen Gespräch in Tunis 2018 – es falle ihm immer schwerer, nicht daran zu verzweifeln. Von 2008 bis 2017 war Martin Gehlen Nahostkorrespondent für zahlreiche deutsche, Schweizer und österreichische Zeitungen in Kairo. Ab 2017 berichtete er aus Tunis, wo er 2021 überraschend verstarb. Seine Analysen über den politischen Verfall des Nahen und Mittleren Ostens sind sehr kenntnisreich. Seine Geschichten und Reportagen beschreiben die Region und ihre Menschen mit großer Offenheit und Anerkennung.
Die nun erschienene Auswahl von Gehlens Artikeln ist eine Würdigung seiner journalistischen Arbeit, aber vor allem eine empfehlenswerte Einführung in eine chronisch problembeladene Region. Auch wenn der Titel „Es war einmal ein Garten Eden“ an längst begrabene europäische Orientfantasien anknüpft – nichts von dieser Verklärung zeichnet Gehlens Nahost-Geschichten aus, allenfalls das Bedauern über den zunehmenden Verfall einer einst auch religiös pluralistischen Region.
Mafiose Kartelle aus Politikern, Generälen und Oligarchen
Das Geschäftsmodell des nahöstlichen Autoritarismus basiere auf dem dort typischen Rentierstaat, analysierte Gehlen. Dieser generiere seine nationalen Einkünfte nicht primär aus einer innovativen mittelständischen Wirtschaft und einer breit gefächerten Industrieproduktion, sondern aus Bodenschätzen wie Öl, Gas und Phosphat, aus Immobiliengeschäften und Devisentransfer durch Landsleute im Ausland sowie aus Finanzmitteln westlicher Geberländer. Das Monopol bei der Vergabe der Mittel hielten entweder adlige Herrscherdynastien oder mafiose Kartelle aus Politikern, Generälen und Oligarchen.
Gehlens Fazit: „Es ist Zeit, dass Europa und die USA daraus die Konsequenz ziehen und beides beenden, ihre Waffengeschäfte und ihre naiv gutgläubigen Staatshilfen. Anders werden die arabischen Potentaten nicht von ihrem repressiven wie unbezahlbaren autoritären Gesellschaftsvertrag abrücken. Anders werden die Völker nie zu einer Stimme kommen.“
Aber nicht nur repressive Herrschaft und strukturelle Gewalt verhindern eine gesellschaftliche Öffnung und Demokratisierung. Die Zäsur, die arabische Gesellschaften massiv zurückwarf, ereignete sich am 20. November 1979: 500 Gotteskrieger besetzten die Große Moschee in Mekka. Zwei Wochen dauerten die Kämpfe, Hunderte Pilger starben, am Ende lag das zentrale Heiligtum des Islams teilweise in Trümmern. Das saudische Königreich reagierte mit einem folgenschweren Kurswechsel. Die Gewalttäter wurden zwar exekutiert, ihre geistigen Brandstifter aber dogmatisch befriedet.
Die Golfregion als Drehscheibe religiöser Militanz
Das war das Ende religiöser Pluralität im Nahen Osten. Statt Vielfalt zählte nun orthodoxe Eindeutigkeit und Einfältigkeit. „Ihre verheerende Wirkung konnte diese hermetische Version des Islam vor allem deshalb entfalten, weil sie besonders leicht zu exportieren ist. Sie ist mit keiner Hochkultur verwoben, braucht kaum kulturellen Kontext und entlastet ihre Anhänger von komplexen und vielschichtigen Aneigungsprozessen“, schreibt Gehlen.
Die Golfregion entwickelt sich seither zu einer Drehscheibe „religiöser Militanz“. Das religiöse Koordinatensystem des Nahen Ostens erodierte: Gelassene religiöse Pluralität werde durch ultraorthodoxe Eindeutigkeiten verdrängt.
Gehlens gut geschriebene Reportagen und Analysen sind ein stabiles Fundament, um auch die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten besser einordnen zu können. Er hat die ganze Region im Blick, ihre politischen Verwerfungen, aber auch die Bedrohung der Lebensgrundlagen durch den Klimawandel, sich ausbreitende Dürre und den Kampf ums Wasser. Die Fotos seiner Frau Katharina Eglau, Mitherausgeberin des Buchs und ehemals taz-Fotoredakteurin, veranschaulichen Gehlens Themen. Darunter vor allem Porträts, die die menschliche Annäherung des Autors an diese „verlorene Region“ ins Bild setzen.
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