Briefwechsel mit Heinrich Böll: Ingeborg Bachmann schrieb lange aus männlicher Perspektive
Der Briefwechsel zwischen Bachmann und Böll führt in eine Zeit, in der Rollenspiele für eine Frau im Literaturbetrieb überlebenswichtig waren.

Wie genau ziehen sich Gegensätze an? Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll haben auf den ersten Blick fast nichts miteinander zu tun – hier die rätselhafte, scheue und form- wie selbstbewusste Lyrikerin, dort der realistische, alltagszugewandte Romanautor. Sie lernten sich als junge und unbekannte Schriftsteller Anfang der 1950er Jahre auf einer Tagung der Gruppe 47 kennen, die im damals tonangebenden literarischen Milieu kaum beachtet wurde. Darin lag offenkundig die Gemeinsamkeit, die sie spürten.
Der erste Brief, den Böll an Bachmann schrieb, ist leider nicht mehr erhalten – der Anknüpfungspunkt und die Tonlage wären sehr interessant. Der Antwortbrief Bachmanns vom 12. Dezember 1952 steht also am Anfang der nun vorliegenden Korrespondenz, mit dem Schluss-Satz: „Es ist gut zu wissen, dass es Sie gibt.“
Die Briefe handeln sehr oft von tagesaktuellen Problemen, von finanziellen Zwängen und Brotaufträgen, die der Literatur immer wieder im Weg stehen. Der zehn Jahre ältere Böll, ein besessener Schreibarbeiter und Vater mehrerer Kinder, gibt Bachmann, die sich auf eine für eine Frau in dieser Zeit völlig außergewöhnliche Existenz als freie Schriftstellerin einlässt, praktische Tipps und weist sie zum Beispiel auf eine Kurzgeschichtenagentur hin. Eine neue Dynamik entwickelt sich um die Tagung der Gruppe 47 am Cap Circeo im Frühling 1954. Es war ihre erste Auslandstagung. Die in Italien lebende Ingeborg Bachmann hatte südlich von Rom einen passenden Ort ausfindig gemacht und Gruppenchef Hans Werner Richter davon überzeugt. Als Römerin bildete sie dann so etwas wie den geheimen Mittelpunkt dieses Treffens.
Einige Teilnehmer blieben danach noch in Rom, darunter Böll. Es gibt kaum Hinweise darauf, wie diese Tage im Einzelnen verliefen. Doch in der ersten Reaktion Bölls, einer Karte auf der Rückreise aus Luzern, hat sich der Ton spürbar geändert. Er spricht vom „Gepäck – wenn’s eines ist“ –, das er in Rom zurückgelassen habe, und fügt hinzu: „Wenn Sie manchmal am Bahnhof Termini vorbeikommen, gedenken Sie des Gepäcks, das dort liegen könnte.“ Eine gewisse Affiziertheit ist unverkennbar. Später geht es noch um eine Taxifahrt im Regen und um einen prickelnden „Frizzante“.
Ingeborg Bachmann/Heinrich Böll: „Was machen wir aus unserem Leben?“ Der Briefwechsel, herausgegeben von Renate Langer. Kiepenheuer & Witsch, Piper und Suhrkamp-Verlag, Köln, München und Berlin, 485 Seiten, 44 Euro
„Sie küsst in den Bars mit dem Strohhalm“
In den nächsten Wochen tauchen Themen auf, über die wohl gesprochen wurde. So scheinen Bölls Erfahrungen als junger Soldat der Wehrmacht eine Rolle gespielt zu haben. Bachmann schrieb in dieser Zeit einige Seiten an einem Romanprojekt namens „Eugen“, das einen solchen Kriegsheimkehrer in den Mittelpunkt stellt. Auch um Bölls tiefen katholischen Glauben dürfte es gegangen sein. Als Bachmann in erster Linie aus Geldgründen ein Radiofeature über die rebellische Mystikerin Simone Weil schreibt, tauschen sich die beiden über ihr Verhältnis zum Christentum aus.
Vor allem erhält Bachmanns Rolle in der Gruppe 47 einige neue Konturen. Böll bittet sie um das Gedicht „von der“, wie er schreibt, „treulosen Geliebten“, das sie am Cap Circeo gelesen habe und ihn offenkundig umtreibt. Er meint „Nebelland“, wo es zum Schluss heißt: „Treulos ist meine Geliebte, / ich weiß, sie schwebt manchmal / auf hohen Schuh’n nach der Stadt, / sie küsst in den Bars mit dem Strohhalm / die Gläser tief auf den Mund, / und es kommen ihr Worte für alle. / Doch diese Sprache verstehe ich nicht.“
Es ist für Bachmann zentral, dass sie lange Zeit konsequent aus männlicher Perspektive schrieb, denn diese war die dominante. Eine autonome weibliche Sprache, so sagte sie später, stand in ihrem gesellschaftspolitischen Umfeld nicht zur Verfügung. Mit dem Blick des Mannes beschreibt sie hier allerdings eine ganz bestimmte Erscheinungsform einer Frau. Sie, die früh gelernt hat, mit Masken und Rollen zu spielen, versucht damit, ihre eigene Position zu umreißen. Bachmann evoziert die Fantasien, die mit ihr selbst als unabhängiger weiblicher Person verbunden werden und Abwehr auslösen („diese Sprache verstehe ich nicht“).
In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Böll einen Monat später scheinbar unvermittelt mitteilt: „Übrigens habe ich Shakespeares ‚Troilus und Cressida‘ noch einmal gelesen.“ Die Herausgeberin des Briefwechsels schreibt in ihrem Kommentar: „Bezug unklar. Es gibt keinen Hinweis darauf, warum sich Böll damit befasste.“ Doch Böll schreibt das wohl keineswegs im luftleeren Raum. Die Protagonisten jenes Dramas – ein verliebter Pazifist und eine hoch gehandelte weibliche Trophäe – entsprechen der aktuellen Konstellation, die er ironisch heraufbeschwört. Was Bachmann über die römischen Tage nach dem Gruppentreffen wiederum an Hans Werner Richter adressiert, also auf einer ganz anderen Bühne, komplettiert das Bild: „Sonst ist alles gut ausgegangen, obwohl die Gruppe nie wieder abzureisen drohte, und manchmal hab ich noch das Gefühl, wenn ich durch die Straßen gehe, es könnte einer auftauchen, der’s vergessen hat.“
Beide gehören zu einer oppositionellen Minderheit
Auch im privaten Umfeld sind die Unterschiede zwischen Böll und Bachmann groß. Sie lebt allein, schreibt langsam und klagt immer über Geldnot, er dagegen ist ein umtriebiger Autor und Vater, der seine Alltagssorgen so schildert: „Ich fahr gern Auto und viel, man ist so schnell damit weg und hat so rasch alles eingepackt / Frau, Kinder, ein bisschen Gepäck und einen Vorschuss in der Tasche.“ Ist Böll ein Kind seiner Zeit, in der eine Ehefrau ohne Einwilligung ihres Mannes nicht einmal Geld auf der Bank abheben konnte? Allerdings arbeitet er mit seiner Frau Annemarie als Übersetzerin zusammen und klagt mehrfach ein, dass sie dabei auch offiziell genannt wird – etwa dem Suhrkamp Verlag gegenüber, der sich durch Bölls exklusiven Namen mehr Aufmerksamkeit verspricht. Damit fällt Böll durchaus als Ausnahme auf.
Generell ist es wichtig, sich die zeitgeschichtlichen Umstände zu vergegenwärtigen. Was Böll und Bachmann verbindet, ist ihre damals äußerst exponierte politische Haltung. Sie gehören in der Adenauerrepublik zu einer oppositionellen Minderheit. Die Gruppe 47 wird von den rechtskonservativen literarischen Wortführern wie Friedrich Sieburg oder Hans Egon Holthusen ignoriert oder verachtet, und dass Bachmann sich 1958 mit Hans Werner Richter gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr engagiert, ist ein Bekenntnis.
Die Konsequenzen sind nicht unerheblich: Die Polizei durchkämmt unangekündigt und ohne offiziellen Durchsuchungsbefehl Richters Haus, etliche Unterlagen werden beschlagnahmt. Nur vor solchen Hintergründen ist erklärbar, dass die Tagungen der Gruppe 47 im Bachmann/Böll-Briefwechsel als eine Art imaginärer Heimat empfunden werden: „Kommst Du zu den 47ern?“, heißt es wiederholt, und vor der Tagung 1960 schreibt Bachmann: „Gut, dass es Aschaffenburg gibt, dass Du auch hinkommst.“
Im Jahr 1965 wendet sich Bachmann an Böll, weil sie, die mit der SPD überhaupt nichts am Hut hat, sich der Kampagne von Günter Grass für einen Bundeskanzler Willy Brandt anschließt: „Ich hätte diese Rolle noch vor einiger Zeit nicht gern übernommen, weil ich mich weit ‚links‘ davon sehe und begreife, aber darum geht es jetzt wohl nicht.“ Dieser Briefwechsel gibt erstaunliche Einblicke in eine Zeit, die mit der unsrigen kaum etwas zu tun hat – außer der Erkenntnis, unter welch schwierigen Bedingungen vieles erkämpft wurde, was heute selbstverständlich anmutet.
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