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Brexit-Drama geht weiterAuftakt zum heißen Herbst

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Jeremy Corbyn will Premier Boris Johnson per Vertrauensfrage stürzen. Funktionieren wird das nicht, denn die Konservativen sitzen am längeren Hebel.

Spuckt mal wieder große Töne aus dem Off: Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn Foto: ap

D as Gezerre um den Brexit in Großbritannien nimmt groteske Formen an. Jeremy Corbyn will im Parlament die Vertrauensfrage stellen – obwohl die wahrscheinlichste Folge eine Auflösung des Parlaments und vorgezogene Neuwahlen wären, ein Königsweg für den auftrumpfenden Boris Johnson. Liberale EU-Freunde werden zur Wahl zwischen einer Corbyn-Regierung und einem No-Deal-Brexit gezwungen, aus ihrer Sicht eine Wahl zwischen antisemitischer Pest und nationalistischer Cholera.

Der einfachste Weg für jede Partei in dieser Situation besteht darin, das jeweils eigene hohe Ross zu besteigen und sich selbst zum einzigen Hüter demokratischer Werte gegen einen Ansturm von Barbaren auszurufen. Es dürfte ein heißer politischer Herbst werden in Großbritannien.

Am Ende, das wissen alle, sitzt die konservative Regierung am längeren Hebel. Wenn der Wechsel von Theresa May auf Boris Johnson eines bewirkt hat, dann eine Umkehrung der politischen Befindlichkeiten. Unter May waren die Konservativen zerstritten und die Brexiteers machtlos, die EU-Freunde konnten die Agenda bestimmen. Unter Johnson ist es umgekehrt: Eine konservative Brexiteer-Regierung tritt geeint und zielstrebig auf, die Gegenseite zerfleischt sich und weiß weder, was sie will, noch wie sie es erreichen könnte. Und entgegen den Erwartungen agiert der Apparat des Premierministers unter Johnson viel straffer und effektiver als je unter May.

Das alles heißt: Man muss sich allmählich an einen No-Deal-Brexit am 31. Oktober gewöhnen – und statt den Weltuntergang an die Wand zu malen, sollten alle Seiten praktische Vorkehrungen treffen, damit es möglichst wenig Probleme gibt.

Das gilt auch für die EU. Wobei diese auch noch eine andere Option hätte: Sie könnte Boris Johnson ein so verlockendes neues Angebot machen, dass er gar nicht umhinkommt, es seiner Regierung und seinem Parlament zur Annahme zu empfehlen. Das würde ihn in größere Nöte stürzen als jedes Corbyn-Manöver.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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7 Kommentare

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  • Stimme der Einschätzung von Johnson (dem Guten) hier ausnahmsweise zu. Der Guardian vergleicht die Situation schon mit der von 1914, wo die Nationen starr und reflexhaft in den ersten Weltkrieg schlitterten. Sagen wir so: Lehman Bros. könnte sich bei einem 'no deal' wiederholen.



    Bis Ende August sind in UK fast alle im Urlaub, hier noch die liberale Sicht der Abgeordneten Wera Hobhouse:



    www.deutschlandfun...erview.693.de.html

  • Neue Hoffnung in Bürokratistan. Ich bin sicher GB wird sich autark deutlich besser entwickeln als der Kontinent, wo man Wirtschaft durch Bürokratie ersetzt und Regulierungswahn mit Innovation verwechselt. Europa unter einer Decke aus Blei, GB scheint entkommen zu können. Die Rest EU wird alles daran setzen müssen, ein prosperierendes GB zu verhindern

  • Ich wüsste nicht, WAS die EU dem Erpresser anbieten soll, ohne sich selbst erheblich mehr zu schaden, als durch den NoDealBrexit für die EU entstehen wird.

    Im übrigen dürfen wir annehmen, dass BoJo JEDES Angebot der EU ablehnen wird - ablehnen muss, es sei denn, die EU löst sich freiwillig auf, bzw. erklärt öffentlich, dass GB alle Vorteile eines EU-Landes genießen darf, ohne sich an die Regeln, die dafür gelten, halten zu müssen.

    Brexit - das ist für die Fanatiker eine Religion. Von der lassen sich die Gläubigen nicht durch ein paar materielle Zugeständnisse abbringen.

    Ich bedaure, dass in Sachen Übergangsregierung Corbyn den Weg nicht frei macht für eine für alle Remainer akzeptable Person.

    Es wäre schon sinnvoll für die Remainer-Parteien und die Tory-Rebellen, Corbyn zum PM auf Zeit zu machen, zumal der versprochen hat, in dieser Zeit keine Labour-Politik zu machen. Ich hoffe, alle entscheiden sich noch dafür. Aber ich bin - hier stimme ich DoJo zu - pessimistisch, ich befürchte, dass das nicht geschehen wird.

    Dann kommt also der NoDealBrexit.



    Uncharted Water. Wir wissen noch nicht, wie schlimm es werden wird für GB. Aber es sieht düster aus.

    Und BoJo könnte die knapp darauf folgende Wahl mit 40% klar für sich entscheiden, wenn sich Labour nicht entschließt, mit den Remainerparteien wahltaktisch zusammenzugehen.

    • @Leo Brux:

      Bei Shakespeare wendet sich ab und zu im vorletzten Akt das Blatt. Es wird aber auch einen sturen backbench MP wie J.C., der gegen die eigenen Kollegen übers Parteivolk und Neueintritte en masse an die Macht gekommen ist, nicht plötzlich zu einem linken Churchill mutieren lassen. Liberale und Grüne sind leider durchs Wahlsystem der Inseln (GB und NI) schwer benachteiligt.

    • @Leo Brux:

      Korrektur 1. Absatz:



      ... als für den den NoDealBrexit für die EU



      an Schaden



      entstehen wird.

  • 6G
    64984 (Profil gelöscht)

    Und mal wieder propagiert Dominic Johnson dafür, dass die Europäer den Briten (in diesem Fall Boris Johnson) ihre Wünsche erfüllen. Ja, sogar ein so verlockendes Angebot, dass Boris Johnson gar nicht anders kann als die Annahme zu empfehlen.



    Das bedeutet ja insbesondere, dass die EU auf deny Backstop verzichtet.



    Das wäre aber das Ende der EU. Denn u.a. hätte die EU dann keinerlei Hoheitsgewalt mehr über ihre Außengrenzen.



    Denn es könnte alles über Irland in die EU kommen, ohne dass die EU Zölle erheben kann oder auch nur kontrollieren kann, was da reinkommt.



    Die Haltung von Dominic Johnson ist definitiv nicht pro europäisch. Sondern pro British und pro (Boris) Johnson.



    Merkwürdig, dass die taz so einen Redakteur beschäftigt.

  • Zitat: „Das alles heißt: Man muss sich allmählich an einen No-Deal-Brexit am 31. Oktober gewöhnen – und statt den Weltuntergang an die Wand zu malen, sollten alle Seiten praktische Vorkehrungen treffen, damit es möglichst wenig Probleme gibt.“

    Das ist es, was die Konservativen so erfolgreich macht: Sie brauchen nicht verantwortlich zu handeln. Die vernünftigen Leute werden sich früher oder später genötigt fühlen, Schadensbegrenzung zu betreiben. Und wenn der Weltuntergang, den sie vorher ausgerufen hatten, dann dank ihrer Umsicht ausfällt, rechnen das die Fans der Konservativen ihren Idolen als Erfolg an.

    Ja, sie sitzen wirklich immer am längeren Hebel, die Arschlöcher dieser Welt. Schon weil die Dummheit und die Ignoranz nicht aussterben werden - und der Überlebenswille letztendlich doch stärker ist als alles andere.