Brexit-Deal zwischen London und Brüssel: EU-Mitgliedstaaten starten Prüfung

Das Vertragswerk wird nun in 27 Hauptstädten begutachtet. Johnson empfiehlt es seinen Landsleuten als Festlektüre. Frankreich will ab 1. Januar strenge Warenkontrollen.

Michel Barnier mit Mundschutz und Aktenordnern unterm Arm. Im Hintergrund ein Kamerateam, das ihn von hinten filmt

Michel Barnier braucht bald einen neuen Job, denn der Deal ist ja im Kasten, oder? Foto: reuters

BRÜSSEL/LONDON afp/dpa | Die EU-Mitgliedstaaten haben die Prüfung des Brexit-Handelsabkommens mit Großbritannien auf den Weg gebracht. EU-Unterhändler Michel Barnier unterrichtete die Botschafter der 27 Mitgliedsländer am Freitagvormittag in Brüssel über das Verhandlungsergebnis, wie ein Sprecher des deutschen EU-Vorsitzes mitteilte. Die Botschafter verabschiedeten darauf einen Brief an das Europaparlament, in dem sie ihre Absicht ankündigen, das Abkommen ab dem 1. Januar vorläufig in Kraft zu setzen.

Die Einigung auf das Handelsabkommen war am Donnerstag nur wenige Tage vor dem Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt zum Jahreswechsel erzielt worden. Das Abkommen sieht einen Handel ohne Zölle vor. Gleichzeitig regelt es Fragen wie die künftige Polizei- und Justizzusammenarbeit oder die soziale Absicherung von Bürgern beider Seiten.

Auf EU-Seite müssen die Regierungen aller 27 Mitgliedstaaten das Verhandlungsergebnis noch billigen. Das von Barnier und der EU-Kommission ausgehandelte Abkommen wird nun eingehend in allen Hauptstädten geprüft.

Der deutsche Sprecher sprach von einer „gewaltigen Aufgabe“. Denn schon das eigentliche Handelsabkommen hat einen Umfang von 1246 Seiten. Hinzu kommen noch weitere Vereinbarungen etwa zur Zusammenarbeit mit der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom). Unter dem Strich geben sich damit 1298 Seiten Vertragstext.

Das nächste Treffen der EU-Botschafter ist am Montag geplant, um über Reaktionen, Fragen und mögliche Einwände der Mitgliedstaaten zu beraten. Geht alles gut, leiten die Botschafter dabei ein schriftliches Verfahren ein, das den Weg für die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung des Abkommens frei machen würde.

Die vorläufige Anwendung sei „ein außergewöhnlicher Schritt“, erklärte der Sprecher des deutschen EU-Vorsitzes. Ziel sei es, „eine erhebliche Störung der Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien mit schwerwiegenden Folgen für Bürger und Unternehmen“ nach Ende der Brexit-Übergangszeit am 1. Januar zu verhindern.

Gleichzeitig schaffe die vorläufige Anwendung die Zeit für „eine ordnungsgemäße und vollständige demokratische Prüfung des Abkommensentwurfs durch das Europäische Parlament“, erklärte der Diplomat. Denn dieses hat bereits klar gemacht, dass die Zeit für eine reguläre Ratifizierung bis Jahresende zu kurz ist. Nach Angaben des Vorsitzenden im Handelsausschuss des EU-Parlaments, Bernd Lange (SPD), könnte diese bis Februar erfolgen.

Auch auf britischer Seite wurde der Zustimmungsprozess eingeleitet. Dazu soll das Parlament am 30. Dezember zu einer außerordentlichen Sitzung aus den Winterferien zurückgerufen werden. Die oppositionelle Labour-Partei hat bereits angekündigt, für das Abkommen zu stimmen. Damit würden auch einige Abweichler im konservativen Regierungslager die Zustimmung nicht verhindern.

Johnson mit Fisch-Krawatte

Premierminister Johnson legte den Briten die Lektüre des komplexen Werks für die Feiertage nahe. Wer in diesem „schläfrigen Moment nach dem Weihnachtsmahl“ etwas lesen wolle, dem empfehle er die Lektüre des Handelspakts, sagte er in einer auf Twitter ausgestrahlten Video-Weihnachtsbotschaft in gewohnt scherzhafter Manier. Dabei hielt er einen dicken Packen Papier hoch, den er als „frohe Botschaft“ deklarierte.

Der Brexit sei der erste Gang gewesen, das Abkommen sei nunmehr „das Fest“, wie er sagt. „Voller Fisch, übrigens“, fügte Johnson hinzu. Die Verhandlungen über den Zugang von EU-Fischern zu britischen Hoheitsgewässern waren einer der kniffligsten Streitpunkte, dieser wurde als letztes gelöst. Schon an Heiligabend hatte Johnson sich mit einer Fisch-verzierten Krawatte vor der Presse gezeigt.

Aus Sicht der britischen Regierung ist mit dem jetzigen Abkommen all das erreicht, was die britische Öffentlichkeit mit dem Brexit-Referendum von 2016 wollte. „Wir haben wieder Kontrolle über unser Geld, unsere Grenzen, unsere Gesetze, unseren Handel und unsere Fischgründe zurückgewonnen“, erklärte die Regierung. Zugleich gewähre das Abkommen Zollfreiheit und unbegrenzte Exporte in die EU.

Kein Erasmus-Programm mehr in Großbritannien

Dass sich trotz des Abkommens – vor allem für die Briten – eine Menge ändern wird, machte am Freitag sogleich die französische Regierung deutlich: Sie pocht auf eine massive Überprüfung britischer Waren vom Jahreswechsel an. „Wir müssen britische Produkte kontrollieren, die zu uns kommen“, sagte Europa-Staatssekretär Clément Beaune am Freitag im Sender Europe 1. Bei Nahrungsmitteln oder Industrieprodukten müssten allen geltenden Normen eingehalten werden. Der französische Staat habe rund 1300 Menschen angeworben, um diese Kontrollen zu gewährleisten. Frankreich ist ein wichtiges Drehkreuz für britische Waren.

Beaune, ein Vertrauter von Staatschef Emmanuel Macron, kündigte zugleich ein Hilfsprogramm für französische Fischer mit einem zweistelligen Millionenbetrag an. „Wir werden sie begleiten“, sagte er mit Blick auf die Fischer. Der Handelspakt sieht eine Übergangsphase von fünfeinhalb Jahren vor, in der EU-Fischer in britischen Gewässern 25 Prozent weniger fischen dürfen. Auch in Frankreich hat die Fischerei einen hohen Symbolwert.

Auch der Brexit-Beauftragte des EU-Parlaments, David McAllister, erwartet nach dem britischen Austritt aus dem Binnenmarkt zum Jahreswechsel „weitreichende Folgen für die Menschen, Unternehmen und öffentliche Verwaltungen“, wie er der Welt sagte. „Der Handel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wird nicht mehr so reibungslos ablaufen können, wie wenn wir gemeinsam dem Binnenmarkt und der Zollunion angehören.“

Auf welche Vorzüge der EU-Mitgliedschaft Großbritannien künftig verzichten muss, machte die EU-Kommission noch an Heiligabend in einer Tabelle deutlich: EU-Programme wie Erasmus, Zugang zum Corona-Hilfsplan, der Binnenmarkt für Spediteure, reibungsloser Handel und dass Haustiere künftig einen Pass haben müssen sind nur wenige der Beispiele.

Ohne Abkommen wären die Folgen allerdings deutlich dramatischer ausgefallen. Dann wären Zölle und aufwendigere Kontrollen notwendig geworden. Wirtschaftsvertreter auf beiden Seiten hatten für diesen Fall vor Verwerfungen und dem Verlust Zehntausender Jobs gewarnt.

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