Bremens Innensenator bricht Kirchenasyl: Abschiebung scheitert an Zivilgesellschaft
Rund 100 Engagierte verhindern eine nächtliche Abschiebung aus der Zionskirche. Grüne und Linke distanzieren sich vom Bruch des Kirchenasyls.
Kirchenmitglieder sind dabei, Menschenrechtsaktivist*innen und Anwohner*innen. Schützen wollten sie Ayoub I. Der junge Somalier hat von der evangelischen Gemeinde Kirchenasyl bekommen. Die Bremer Innenbehörde will ihn abschieben, nach Finnland, wo er zunächst seinen Asylantrag gestellt hatte. Dafür ist Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) bereit, das Kirchenasyl zu brechen – das ist in Bremen seit 30 Jahren nicht passiert.
Die Polizei macht zunächst kehrt, kommt aber nach kurzer Zeit zurück. „Ich möchte da nicht mit vollem Polizeiaufgebot reingehen“, habe ihm ein Zivilpolizist gesagt, erzählt Gemeindepastor Thomas Lieberum, und an seine Vernunft appelliert. Die Kirche bekäme doch auch nur Ärger, wenn die Leute die Polizei weiter von ihrer Arbeit abhielten. „,Wir stehen hier friedlich und fühlen uns tief verwurzelt im Glauben', habe ich ihm daraufhin gesagt. Ich glaube, das hat er nicht ganz verstanden.“
Reiner Selbstzweck war die theologische Diskussion nicht. „Natürlich habe ich auch gehofft, dass die Zeit vergeht“, so der Pastor. „Der Abschiebeflug nach Finnland war ja für eine bestimmte Uhrzeit gebucht.“ Irgendwann zieht die Polizei ganz ab. Für diese Nacht ist I. gerettet.
Kirchenasyl-Bruch liegt im Trend
Jahrzehntelang war die Tradition, dass Kirchen besonderen Härtefällen trotz anderslautender Behördenentscheidung humanitäres Obdach vor dem Zugriff des Staates gewähren, akzeptiert worden. Doch in diesem Jahr haben schon mehrere Bundesländer ihre Politik geändert – und erstmalig auf Abschiebungen aus dem Kirchenasyl gesetzt.
Die Zahl der Kirchenasylfälle war zuvor stark gestiegen – während zeitgleich der gesellschaftliche Druck gewachsen ist, Abschiebungen durchzuführen. Auch in Bremen lassen sich beide Entwicklungen ablesen: Erst Mitte November hatte eine Liste des Migrationsamtes von 111 gescheiterten Abschiebungen 32 auf Kirchenasyl zurückgeführt. Innensenator Mäurer hatte noch im Oktober mit einer „Zentralstelle für Rückführungen“ auf mehr Abschiebungen gesetzt.
Der Somalier Ayoub I. ist seit einigen Wochen im Kirchenasyl der Ziongemeinde. Laut Dublin-Regelung müsste er nach Finnland zurück, wo er zuerst Asyl beantragt hatte. Doch dort hat er Gewalt durch Pushbacks erfahren: Zwischen Russland und Finnland werden Geflüchtete in einer Art Niemandsland hin und her geschickt.
Mit einem Rammbock drang die Polizei in Schwerin Ende Dezember 2023 ins Kirchenasyl ein, um zwei volljährige Söhne einer sechsköpfigen afghanischen Familie abzuschieben. Die Mutter – eine afghanische Frauenrechtlerin und TV-Journalistin – verhinderte die Abschiebung, indem sie drohte, sich und die Kinder umzubringen.
Eine vierköpfige russische Familie wurde im Mai aus einer Kirchenwohnung in Bienenbüttel (Landkreis Uelzen) abgeschoben. Der Vater und der Sohn sind Kriegsdienstverweigerer und hatten einen Einzugsbefehl der russischen Armee erhalten. Die Mutter ist schwer psychisch krank und wurde in Deutschland behandelt. Sie wurden nach Spanien geflogen.
Ein 29-jähriger Afghane, der zur diskriminierten Minderheit der Hazara gehört, wurde im September aus Hamburg abgeschoben. Er ist psychisch krank und lebt seit neun Jahren in Europa. Die Beamten brachten ihn nach Schweden, wo sein Asylgesuch bereits abgelehnt worden war. Er kam wieder und wurde in Glückstadt inhaftiert. Von dort wurde er im November wieder nach Schweden gebracht.
Menschenrechtswidrig sei das, sagt Lars Ackermann, der in Bremen beim Verein „Zuflucht“ für die Kirchen Anträge auf Kirchenasyl prüft – und auch Ayoub I. als Härtefall aufgenommen hat. Wenige Tage noch müsste I. aushalten, dann würde die Rückführung nach Dublin-Regelung verfallen: Am Samstag hält sich I. ein halbes Jahr in Deutschland auf.
Für die Bremer Innenbehörde ist der Fall scheinbar klar: Das Härtefall-Dossier, das die Kirche für ihn eingereicht hatte, war vom Bundesamt für Migration (BAMF) abgelehnt worden – damit müsse das Kirchenasyl enden.
Mäurer gibt sich empört über die nächtliche Versammlung der Menschen in der Zionskirche: Gemeindemitglieder, aber auch „teilweise Vermummte“ hätten sich der Polizei entgegengestellt – und das Läuten der Kirchenglocken mitten in der Nacht sei „an Zynismus nicht zu übertreffen“. „Mit der Aktion wird gegen eine gültige Vereinbarung verstoßen. Staat und Kirchen müssen darüber dringend reden.“
Gemeint ist eine Vereinbarung aus dem Jahr 2015, in der die Kirchen und das BAMF versucht hatten, Regeln für den Ablauf des Kirchenasyls aufzustellen. Die Vereinbarungen werden seit diesem Jahr von Landesbehörden und Kirchen unterschiedlich interpretiert: Die staatlichen Vertreter pochen auf einen Absatz, dass das Kirchenasyl drei Tage nach abgelehntem Härtefalldossier enden muss. Die Kirchen beharren darauf, dass dieser Satz nachträglich vom BAMF ergänzt wurde – und nie Teil der Vereinbarung war.
Fakt ist: Seit Bestand der Vereinbarung stellte ein abgelehntes Härtefalldossier für den Staat nie einen Anlass dar, das Kirchenasyl tatsächlich zu brechen – obwohl auch in der Vergangenheit eine überwältigende Mehrheit der Anträge „ohne echte Einzelfallprüfung“, wie Lars Ackermann sagt, abgelehnt worden war. Die Empörung des Innensenators über den Rückhalt der Kirche für Ayoub I. kommt daher einigermaßen überraschend.
Zumal die versuchte Abschiebung zumindest die Dehnung eines eigenen Erlasses der Innenbehörde von 2020 darstellt. Darin ist festgehalten, dass aus „besonders sensiblen Bereichen“ – unter anderem sakralen Räumlichkeiten – ein „polizeiliches Einschreiten ausschließlich zum Zwecke der (…) Abschiebung regelmäßig nicht erfolgen“ soll.
Gundula Oerter, Flüchtlingsrat Bremen
Die Innenbehörde kontert, „ausnahmsweise“ sei eine solche Abschiebung – nach besonderer Prüfung durch den Innensenator – aber auch nach diesem Erlass möglich. Worin die besondere Ausnahme im Fall von Ayoub I. gegenüber früheren Fällen von Kirchenasyl besteht, wird nicht deutlich.
Einen Widerspruch sieht der Flüchtlingsrat, der maßgeblich daran beteiligt war, Menschen für die Nachtwache in der Kirche zu mobilisieren, auch zum Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung: Dort ist eine „humanitäre Migrationspolitik“ als Ziel festgehalten.
Regierungsfraktionen überrascht
Tatsächlich wurden die Regierungsfraktionen von der Entscheidung des Innensenators offenbar überrascht. Grüne und Linke reagierten scharf. „Dass die Verantwortlichen im Senat nun nicht mal vor kirchlichen Räumen zurückschrecken, ist eine Zäsur“, so Sophia Leonidakis, Vorsitzende der Linksfraktion. Auch Henrike Müller, die Fraktionsvorsitzende der Bremer Grünen, wird deutlich: „In diese Schutzorte mit Polizei eindringen zu wollen, ist politisch falsch und menschlich unanständig.“ Die SPD-Fraktion antwortet nicht auf eine Anfrage der taz.
Pastor Lieberum zeigt sich enttäuscht vom Senat. Pikant sei, dass Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) noch am Montag beim Jahresempfang der Bremischen Evangelischen Kirche den Verein „Zuflucht“, zuständig für die Kirchenasyle in Bremen, für seine Arbeit gedankt hatte. Die Senatskanzlei möchte sich zu der Frage, ob der Bürgermeister vorab von der geplanten Abschiebung wusste, nicht äußern.
Auch wenn die Polizei in der Nacht von Montag auf Dienstag abgezogen ist: Die Gefahr scheint noch nicht gebannt. Die Innenbehörde erklärt, das weitere Vorgehen sei noch „in Abstimmung.“ „Wir rechnen jedenfalls mit weiteren Versuchen“, sagt Gundula Oerter vom Flüchtlingsrat Bremen. Konkret bedroht sind neben Ayoub I. noch zwei weitere Somalier im Kirchenasyl in anderen Gemeinden, deren Härtefalldossiers gerade vom BAMF abgelehnt wurden.
„Für die Zukunft des Kirchenasyls in Bremen ist der Bruch eine Vollkatastrophe“, sagt Pastor Lieberum, „dass es selbst im weltoffenen Bremen nicht mehr akzeptiert wird, das macht so viel kaputt.“ Eine ähnliche Sorge treibt auch Oerter um: „Wenn das angeblich so liberale Bremen mit seiner rot-grün-roten Regierung das Kirchenasyl bricht, dann hat das eine negative Signalwirkung an das ganze Bundesgebiet“, sagt sie. „Das ist ein Dammbruch.“
Auch die nächste Nacht will Gundula Oerter in der Kirche schlafen; sie rechnet mit vielen weiteren Engagierten. Auf diese Art kann zumindest die Abschiebung von Ayoub I. bis Samstag eventuell verhindert werden. Ermutigend sei die Solidarität der vielen Menschen, die sich in der Kirche die Nacht um die Ohren geschlagen hätten. „Wir brauchen solche Orte des kollektiven Widerstands“, sagt Oerter. „Sich gemeinsam der rechten Politik der Mitte entgegenzustellen, ist eine stärkendes Erfahrung.“
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