Breitscheidplatz-Gedenken: „Immer nur Verdächtigungen“
Der Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Martin Germer, äußert sich zur Kritik seines Kollegen Steffen Reiche in der taz
taz: Herr Germer, Ihr Pastorenkollege Steffen Reiche aus Nikolassee hatte in seiner Weihnachtspredigt und anschließend in der taz die Teilnahme von Mohamed Matar an der Gedenkfeier für die Opfer des Amri-Anschlags in Ihrer Kirche kritisiert. In einer offenen Mail, die Sie ihm wegen seiner Aussagen im taz-Interview geschrieben haben, klingen Sie sehr aufgebracht darüber.
Martin Germer: Steffen Reiche hat offenbar ohne nähere Kenntnis der Moschee „Neuköllner Begegnungsstätte“ (NBS) und ihres jungen Mitarbeiters einen gravierenden Vorwurf erhoben: dass sich da jemand nach außen hin friedensengagiert äußert und dann in der eigenen Gemeinde das Gegenteil tut. Das ist eine Unterstellung, die man ohne konkrete Anhaltspunkte nicht erheben kann – schon gar nicht als christlicher Theologe.
Herr Reiche beruft sich auf Anschuldigungen, die in der Presse veröffentlicht wurden. Und Tatsache ist, dass der Verfassungsschutz die NBS auf dem Schirm hat.
Was die Beobachtung durch den Verfassungsschutz angeht: Das besagt noch gar nichts. Ich erwarte doch vom Verfassungsschutz, dass er darauf achtet, was in der Moscheenlandschaft gesagt und getan wird. Ja, ich stelle fest, dass im Verfassungsschutzbericht einige Dinge in Bezug auf die NBS stehen – etwa, dass es einen indirekten organisatorischen Zusammenhang mit der „Islamischen Gemeinschaft in Deutschland“ (IGD) gibt, bei der der Verfassungsschutz wiederum einen Bezug zur Muslimbruderschaft zuordnet. Er verweist auch darauf, dass in der NBS vor Jahren ein Prediger aufgetreten ist, von dem man dann aus anderen Zusammenhängen erfuhr, dass er ziemlich schlimme Dinge gesagt hat. Davon hat die NBS sich aber schon vor geraumer Zeit distanziert und es als Fehler bezeichnet.
Jahrgang 1956, ist seit 2005 Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche auf dem Breitscheidplatz. Er leitete am 19. Dezember die interreligiöse Gedenkfeier für die Opfer des Anschlags.
Über diese klarstellenden Aussagen der NBS wird aber nicht berichtet, sondern es werden immer nur Pauschalverdächtigungen aufrechterhalten. Das hilft uns aber nicht weiter. Wir brauchen doch Verantwortliche in Moscheen, die bereits sind, auf die Menschen, die sie besuchen, engagiert einzuwirken, die dafür werben, sich in die deutsche Gesellschaft als Muslime einzubringen, die dafür werben, dass es keine antisemitischen Äußerungen und Verhaltensweisen geben soll. Und das tut die NBS seit Jahren nachweislich, wie ich auch aus eigener Beobachtung sagen kann.
Die B.Z., die Sie als Teil eines „Zitationskartells“ betrachten, das die NBS in ein schlechtes Licht rückt, verweist auf einen Facebook-Post. Da hat sich Matar mit einer bestimmten Geste fotografiert lassen, die als Symbol der islamistischen Muslimbruderschaft gilt.
Das ist nicht unproblematisch, und man muss nachfragen, was genau es bedeutet. Mit Herrn Matar selbst habe ich nicht sprechen können, weil er verreist ist – aber von Leuten, die über den Islam und die aktuelle Situation im Nahen Osten wesentlich mehr wissen als ich, habe ich mir sagen lassen, dass das Zeichen der vier erhobenen Finger nicht automatisch bedeutet, dass sich jemand mit der Muslimbruderschaft identifiziert. Es kann einfach ein Zeichen gegen die Repression sein, der sich Muslime ausgesetzt sehen. Das Foto entstand, als in Ägypten die Militärdiktatur die islamische Regierung aus der Macht gedrängt hat und viele Menschen umgebracht worden sind. Für mich ist plausibel, dass ein engagierter junger Mann wie Herr Matar vor diesem Hintergrund ein Zeichen der Solidarität mit Menschen zum Ausdruck bringt, die Repressionen ausgesetzt sind.
Der andere Vorwurf an Matar ist, dass er auf seiner Facebookseite das Foto einer von israelischen Soldaten erschossenen 16-jährigen Palästinenserin verbreitet hatte, mit einem Kommentar, der Sympathie für sie ausdrückte. Es soll sich aber um eine Attentäterin handeln, die von den Soldaten gestoppt wurde.
Matar selbst sagt dazu, die junge Frau sei nach seinen damaligen Informationen ohne Grund erschossen worden. Meines Wissens wird das auch weiterhin nicht nur von Palästinensern, sondern auch von einer israelischen Friedensorganisation vertreten. Aber als deutlich wurde, dass die Frau auch ein Attentat geplant haben könnte, hat Herr Matar diesen Post gelöscht und ihn als Fehler bezeichnet. Was hätte er denn mehr tun können?
Trotzdem: Wäre es gegenüber den Opfern und Angehörigen vom Breitscheidplatz nicht sensibler gewesen, einen Imam einzuladen, bei dem noch nicht einmal Zweifel im Raum stehen?
Da muss man die Entstehungsgeschichte sehen. Die Verantwortlichen für die Gedenkandacht suchten einen muslimischen Teilnehmer, und die Landeskirche wandte sich an den Zentralrat der Muslime. Der hat Herrn Matar empfohlen. Wir selber hatten ihn unabhängig davon zwei Wochen zuvor bei einer Veranstaltung zu Gast. Da hatte ihn Pfarrer Andreas Goetze mitgebracht, der in unserer Landeskirche für den interreligiösen Dialog zuständig ist. Wir hatten den Eindruck, dass Herr Matar eine engagierte und integre Person ist. Von den anderen Dingen und Fragen wussten wir zu diesem Zeitpunkt nichts, und es ist ein bisschen müßig, im Nachhinein zu überlegen, was wir anderenfalls getan hätten.
Engagierte Muslime aus arabischen Kontexten leben in einer komplizierten Welt. Dass da jemand auch mal etwas sagt oder tut, was er hinterher als Fehler bezeichnet oder hinter das man ein Fragezeichen setzen kann, wird kaum zu vermeiden sein. Aber kann die Konsequenz sein, dass wir mit Muslimen, die sich für das gute Miteinander in unserer Gesellschaft und den Dialog mit anderen Religionen aussprechen, nicht mehr reden? Von daher hätten wir im Hinblick auf die besondere Sensibilität dieser Situation vielleicht versucht, jemand anderes ohne jegliche Fragezeichen gewinnen. Aber wenn wir wieder mal einen muslimischen Partner suchen, kann ich mir nach dem aktuellen Stand der Dinge durchaus vorstellen, Herrn Matar wieder einzuladen. Vielleicht werden wir ihn auch in nächster Zeit noch einmal einladen, genauer über die Hintergründe zu sprechen.
Werden Sie auch mit Ihrem Kollegen Steffen Reiche sprechen?
Wir beide kennen uns ja persönlich, natürlich werden wir uns weiterhin freundlich grüßen und miteinander reden. Und wenn er jetzt auf meine Mail reagiert, können wir darüber gerne auch öffentlich eine Debatte führen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind