Brasilianische Aktivistin Franco: Symbol des Widerstands
Vor zwei Jahren wurde Marielle Franco ermordet. Doch mit ihrem Einsatz für Schwarze, Frauen und LGBTQ-Rechte hat sie eine neue Generation politisiert.
Es ist 2017, ein Jahr später wird Marielle Franco ermordet. Bis zu ihrem Tod war Franco außerhalb Rio de Janeiros weitgehend unbekannt, danach wurde sie zu einem landesweiten Symbol für Widerstand. Am Samstag jährt sich ihr Todestag zum zweiten Mal.
Wer sich die Geschichte von Marielle Franco anschaut, lernt viel über Brasilien und die Machtverhältnisse im Land. Franco kam in einer Zeit in die Politik, in der sich ein immer tieferer Riss durch die Gesellschaft zog. Und mittendrin diese charismatische Stadträtin mit tiefer, warmer, eindringlicher Stimme. Die abwägte. Eine, die Polizeigewalt scharf verurteilte und sich gleichzeitig um die Belange der Einsatzkräfte kümmerte. Eine, so erzählt es eine Freundin, bei der man wusste, dass sie im Raum war, noch bevor man sie sah.
Menschen wie Marielle Franco sind selten in brasilianischen Parlamenten. Franco stammt aus der Favela, sie ist Schwarz, bisexuell, Soziologin, Sozialistin. Sie wurde nicht trotz ihrer Biografie gewählt, sondern wegen. Wie zwei rote Fäden ziehen sich Gewalt und Widerstand durch Marielle Francos Leben: Sie politisiert sich jung, nachdem eine Freundin bei einem Schusswechsel tödlich verletzt wird. Später spricht sie über Polizeigewalt in Favelas, über sexualisierte Gewalt, Rassismus, LGBTQ-Feindlichkeit. Aggressionen, denen sie ausgesetzt war. Als ein 23-Jähriger durch einen Polizeischuss getötet wird, twittert sie: „Wie viele werden noch sterben müssen, damit dieser Krieg endet?“ Am Tag darauf wird sie selbst Opfer der Gewalt.
13 Schüsse
Am Abend des 14. März 2018, auf dem Rückweg von einer Podiumsdiskussion, werden Marielle Franco und ihr Fahrer Anderson Gomes im fahrenden Auto im Zentrum Rio de Janeiros getötet. 13 Schüsse, beide sterben am Unfallort.
Binnen weniger Tage kommt es zu Protesten im ganzen Land, allein in Rio sind Zehntausende auf der Straße. Es werden lila Sticker verteilt, darauf steht: „Marielle vive“, Marielle lebt. Eine Mischung aus Wut, Solidarität, Angst und Trauer liegt über diesen ersten Kundgebungen. Nicht wenige, die da auf die Straße gehen, haben bis zu diesem Tag noch nie von Marielle Franco gehört.
Kann man um einen Menschen trauern, den man nicht kannte? Oder andersrum: Kann man sich Trauer aneignen? Die Suche nach Antworten beginnt bei einer, die Marielle Franco gut kannte. Talíria Petrone, 34, eine Parteikollegin. Franco habe etwas repräsentiert, erklärt sie sich die Reaktionen auf ihren Tod. „Sie verkörperte Menschen, die sonst von der Politik vergessen wurden. Arbeiter*innen, LGBTQs, Menschen aus der Favela, Frauen, Schwarze, Mütter. Und sie wurde auf eine brutale Weise in einer der größten Städte des Landes ermordet, einer Stadt, die auf der ganzen Welt bekannt ist.“
Bei den Wahlen nach dem Mord treten in Rio de Janeiro mehr als doppelt so viele Schwarze Frauen an als zuvor. Auch vier Wegbegleiterinnen Francos werden gewählt: ihre Stabschefin und zwei ihrer Beraterinnen kommen in den Landtag von Rio de Janeiro. Talíria Petrone sogar in die Abgeordnetenkammer in der Hauptstadt Brasilia. „Herdeiras de Marielle“ werden sie genannt, die Erbinnen von Marielle.
Talíria Petrone mag so nicht genannt werden. „Das macht nicht nur den Mord unsichtbar, sondern auch meine eigene politische Laufbahn. Und man ersetzt nicht einfach so eine ermordete Frau, eine ermordete Parlamentarierin.“ Petrone und Franco haben sich 2010 in Rios Favela Maré kennengelernt. Franco wohnte dort, Petrone unterrichtete dort. Als Franco für den Stadtrat in Rio de Janeiro kandidierte, kandidierte Petrone für das gleiche Gremium in der Nachbarstadt Niterói. Die beiden Freundinnen gewannen.
Nach dem Mord beschließt Talíria Petrone für die nationale Abgeordnetenkammer zu kandidieren. An ihrem ersten Tag hätten Sicherheitsleute sie nicht in das Gebäude lassen wollen, hätten gefragt, zu welchem Abgeordneten sie gehöre. Von den 513 Sitzen sind dort nur 13 von Schwarzen Frauen besetzt. „Nach 500 Jahren Kolonialzeit ist das zu wenig“, sagt Petrone, Tochter einer Lehrerin und eines Künstlers. Den Kongress, das Parlament, überhaupt die Politik beschreibt sie als gewaltvolle Orte. „Es verwundert die Leute, dort Frauen wie uns zu sehen, mit unseren Haaren, unseren Hautfarben, unserer Art.“ Sie sagt aber auch: „Der Mord hat vielen Menschen gezeigt, wie wichtig es ist, mehr von uns in diesen Räumen zu haben.“
Angriffe wie die auf Marielle Franco verletzen vielleicht ein ganzes Land, sie treffen aber vor allem ganz bestimmte Menschen. Und das sind in diesem Fall: die Schwarzen, die Frauen, die LGBTQ. Die drei Gruppen also, die in den Gewaltstatistiken auffallen, die Behörden zufolge einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind. Franco war die Schnittmenge, und sie lebte zwischen Favela, Universität und Stadtrat, zwischen der Welt der Aktivist*innen und der der Regierenden. Zwischen der Straße am Frauentag, den sie mitorganisierte, und Sektempfängen im Rathaus.
Seit dem Mord ist der 14. März in Rio de Janeiro offizieller Tag des Genozid an Schwarzen Frauen. Jedes Jahr werden in Brasilien zehntausende Schwarze Menschen ermordet, die Zahl wächst jährlich. Weil Rassismus in Brasilien, der ehemaligen Kolonie Portugals, tief verwurzelt ist. Aber auch, weil der Hass wächst. Und weil die weißen politischen Eliten das zulassen. Die schleppenden Ermittlungen im Fall Marielle Franco zeigen das.
Wer sich Bilder von den vielen Demonstrationen in Erinnerung an Marielle Franco anschaut, wird hauptsächlich Schwarze Menschen sehen, Frauen, Menschen aus der LGBTQ-Gemeinde. Man wird aber auch weiße Menschen sehen. Und vor allem: junge Menschen. Marielle Franco hat eine Generation politisiert.
Blenda Paulino ist 21, eine Schwarze Frau aus einer Favela in Rio, Aktivistin und Studentin. „Die Jugend organisiert sich, darin sehe ich ein enormes Potenzial“, sagt sie. Paulino besetzte als Schülerin ihre Schule, um gegen Bildungsreformen zu protestieren, die vor allem die weiße Mittelschicht privilegiert hätten. Später, als sie volljährig wurde, wählte sie Marielle Franco. Damals, bei ihren ersten Wahlen, erzählt sie, habe sie sich in der Stadträtin wiedergefunden. „Mir ging es um Sichtbarkeit, eine Frau wie ich, die an erster Stelle kämpft.“
Spuren führen zu Bolsonaro
Der Mord hat zwei Gefühle in Blenda Paulino ausgelöst. Erstens: Angst, die bis heute anhält. Und zweitens: Das dringende Bedürfnis, weiterzumachen, sich zu bewegen, etwas zu bewegen. Kurz nach dem Mord gründet Paulino mit Jugendlichen aus angrenzenden Favelas ein Kollektiv, um über Politik zu diskutieren. Sie sprechen über weiße Politiker aus der wohlhabenden Südstadt, die über Favelas schwadronieren. Über all die vermeintlich öffentlichen Räume, aus denen sie ausgeschlossen werden. Über Themen, bei denen Privilegierte wegschauen können. Mittlerweile organisieren sie kostenlose Kurse, die Jugendliche in Favelas für Aufnahmeprüfungen an brasilianischen Universitäten vorbereiten. Franco hatte selbst einen solchen Kurs besucht, bevor sie studierte.
Und wie fühlt Blenda Paulino sich jetzt, zwei Jahre später? „Als Schwarze Frau fühle ich mich angesichts der Ermittlungen absolut nicht ernstgenommen“, sagt Paulino. Sie will Antworten. Etwa ein Jahr nach der Tat werden ein pensionierter und ein ehemaliger Militärpolizist festgenommen. Sie sollen Franco und ihren Fahrer erschossen haben. Seitdem gab es Razzien, Prozesse, Anhörungen, Spuren, die bis zur Familie des Präsidenten Bolsonaro reichten – ohne klare Antworten. Wer hat angeordnet, Marielle Franco zu töten, und warum? Was zwei Jahre nach dem Mord bleibt, sind offene Fragen wie diese. Und ohrenbetäubende Stille.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen