Brasilianischer Politiker im Exil: „Ich würde es wieder tun“
Der brasilianische Politiker Jean Wyllys spuckte einst Jair Bolsonaro ins Gesicht. Der taz erzählt er, wie dieser Tag sein Leben verändert hat.
Seit einem Jahr ist Jair Bolsonaro Präsident Brasiliens, seit einem Jahr lebt Jean Wyllys im Exil. Die Geschichte des rechtsextremen Präsidenten und die des linken Politikers sind eng miteinander verwoben: Bolsonaro ist mitverantwortlich, dass Wyllys sich gezwungen sah, ins Exil zu gehen. Dass Bolsonaro heute Präsident ist, das liegt auch an Wyllys.
Am 17. April 2016 ist es unübersichtlich im brasilianischen Nationalkongress. Es ist der Tag, an dem über die Amtsenthebung der linken Präsidentin Dilma Rousseff abgestimmt wird. Rousseff wird vorgeworfen, Haushaltspläne zu ihren Gunsten manipuliert zu haben. Sie spricht von politischer Verfolgung, von einem Putsch. Auf Leinwänden wird die mehrstündige Sitzung übertragen, landesweit schauen Menschen dabei zu, wie die stimmberechtigten Abgeordneten nacheinander an das Mikrofon treten.
Unter ihnen sind auch die Abgeordneten Jean Wyllys und Jair Bolsonaro. Bolsonaro stimmt für die Amtsenthebung. Seine Stimme widmet er einem mittlerweile verstorbenen Offizier, der während der brasilianischen Militärdiktatur als Folterer bekannt wurde. Als Bolsonaro den Namen des Folterers ausspricht, grölen einige Abgeordneten, um ihm zuzustimmen. Als politische Gefangene war auch Rousseff während der Militärdiktatur gefoltert worden.
Kurz darauf ist Wyllys an der Reihe. Er trägt einen roten Schal, schreit in das Mikrofon, um neben all den Zwischenrufen gehört zu werden. Wyllys stimmt gegen die Amtsenthebung. Nachdem er vom Pult tritt, läuft er an Bolsonaro vorbei und spuckt dem heutigen Präsidenten ins Gesicht. „Ich würde es sofort wieder tun“, sagt Wyllys rückblickend am Telefon. Mittlerweile lebt er in den USA, auf Einladung lehrt und forscht er an der Universität Harvard. Er ist gegangen, weil er sich in Brasilien nicht mehr sicher fühlen konnte. Jean Wyllys ist der erste amtierende brasilianische Politiker, der sich seit der Militärdiktatur gezwungen sah, ins Exil zu gehen.
Feindbild und Gefahr
Die ersten Morddrohungen kamen schon 2010 mit seinem Eintritt ins Parlament, mit der Zeit wurden sie häufiger, brutaler, konkreter. Im November 2016 erreicht ihn diese Nachricht: „Du kannst beschützt werden, aber deine Familie nicht. Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen wird, auf die enthaupteten, vergewaltigten Körper deiner Angehörigen zu blicken?“ Wenige Tage später kommt eine Nachricht mit Adressen von Familienangehörigen, den Nummernschildern ihrer Autos, Einzelheiten über ihr Privatleben.
Als die Präsidentschaftswahlen näher rücken, werden aus Worten Taten. Wyllys erzählt, dass er auf der Straße verunglimpft und bedrängt wurde. Unbekannte nannten ihn am helllichten Tag einen Pädophilen, sagten, Bolsonaro werde ihn bald fertigmachen. Trotzdem bittet der Abgeordnete erst nach dem Mord an Marielle Franco um Polizeischutz. Die bisexuelle Schwarze Stadträtin und ihr Fahrer wurden am 14. März 2018 im Zentrum Rio de Janeiros mit mehreren Schüssen getötet. Franco und Wyllys waren eng befreundet.
Als der Abgeordnete am Tag nach dem Mord dessen Aufklärung fordert, hat er verquollene Augen. Später wird er sagen, er habe die ganze Nacht geweint. Franco gehörte wie er selbst zu den vielversprechenden Stimmen unter den blassen, heterosexuellen Gesichtern der brasilianischen Politik. Was würde die Mörder von Marielle nun davon abhalten, auch ihn zu töten?
Der Polizeischutz teilte den Stadtplan in grüne, gelbe und rote Flächen ein: Rote waren für Wyllys verboten, gelbe riskant, nur in grünen Gebieten durfte er sich bewegen. Nach drei Monaten bekam er einen Nervenzusammenbruch. Es ist der Abend der Mondfinsternis, des Blutmondes. Weil seine Leibwächter bei Einbruch der Dunkelheit freihaben, kann Wyllys nicht aus seiner Wohnung. Auf die Straße gehen, in den Himmel blicken: Lebensgefahr.
„Fora da Curva“
Etwa zur selben Zeit denkt Wyllys erstmals darüber nach, sein Amt niederzulegen, vielleicht das Land zu verlassen. Andererseits stehen die Wahlen an, er fühlt sich als einziger offen homosexueller Abgeordneter der LGBTQ-Gemeinde verpflichtet. Wer würde dafür sorgen, dass der Mord aufgeklärt wird? Wer würde von seiner Abwesenheit profitieren?
Ein Blick zurück: 2010 gelingt Jean Wyllys unerwartet der Einzug in das Parlament. Damals ist er aus „Big Brother“ bekannt, er hatte bei der Sendung gewonnen. Als Abgeordneter macht er sich schnell einen Namen, setzt sich für LGBTQ-Rechte ein, denkt rassismuskritisch und intersektional, beherrscht den Umgang mit sozialen Netzwerken. Wyllys wird mehrfach ausgezeichnet, zwei weitere Male gelingt ihm die Wiederwahl. Er sei „um ponto fora da curva“, sagt Wyllys, jemand, der nicht in gesellschaftliche Kategorien passt, der bisher in dieser Position nicht denkbar war.
Wohl auch deswegen kam der Hass von allen Seiten. Von Rechten, die sich daran stören, wie er Rousseff verteidigte. Von alten Linken, die seine Radikalität als bedrohlich empfanden. Von paramilitärischen Gruppen, die seinem Engagement gegen Polizeigewalt ein Ende setzen wollten. Von religiösen Fundamentalisten, die sich an seinem queeren Aktivismus stören. Dass er für derart konträre Gruppen zur Zielscheibe wurde, führt Wyllys auf seine Homosexualität zurück.
„Homosexuell zu sein bedeutet, dass du dich permanent in einem Kampf mit der Welt um dich herum befindest“, sagt Wyllys. Das lässt sich ablesen, wenn er von dem Tag erzählt, an dem er Bolsonaro ins Gesicht gespuckt hat. Er spricht nicht von einem Angriff, sondern von einer Reaktion. „Auf jahrelange Demütigungen, auf Fake News, auf Hass, auf Homophobie.“ Wenige Augenblicke zuvor habe Bolsonaro ihn im Vorbeigehen beleidigt, betont Wyllys. Darüber spreche aber kaum jemand.
Ständig bedroht
Auch später, während seiner Kampagne, hat der heutige Präsident Wyllys’ Sexualität instrumentalisiert, den Hass auf Homosexuelle bedient, um konservative Gruppen zu mobilisieren. Obwohl Wyllys nie Präsidentschaftskandidat war, konnte so zwischenzeitlich der Eindruck entstehen, er sei Bolsonaros größter Gegner. Als Wyllys bekannt gab, Brasilien zu verlassen, twitterte Bolsonaro „Grande dia“ – großer Tag.
„Ein LGBT geht, aber der nächste kommt“, kommentierte David Miranda darunter. Miranda ist der Nachfolger von Jean Wyllys. Wie Wyllys war auch Miranda ein Freund Francos, wie Wyllys ist auch er homosexuell, wie Wyllys wurde auch er deswegen zur Zielscheibe. Als klar wird, dass Miranda das Mandat übernehmen wird, teilen Bolsonaro und seine Söhne gezielt eine Desinformation, wonach Miranda das Mandat gekauft habe. Etwa zur selben Zeit erhält der neue Abgeordnete die erste Morddrohung. Seit Oktober steht auch Miranda unter Polizeischutz.
Wyllys ist nicht der Einzige, der sich dieser Bedrohung nicht mehr länger aussetzen konnte. Auch Debora Diniz lebt im Exil, eine Anthropologin, die sich bis vor das oberste Gericht für das reproduktive Selbstbestimmungsrecht insbesondere armer Frauen eingesetzt hatte. Oder der Schriftsteller Anderson França, der über soziale Ungerechtigkeiten schreibt. Und die feministische Philosophin Marcia Tiburi, deren Lesungen von bewaffneten Männern gestürmt wurden. Der Guardian spricht von einer neuen Generation politischer Exilierter in Brasilien.
Offiziell verkündet Jean Wyllys sein Exil am 24. Januar 2019. Mit Bolsonaros Wahlsieg sei ihm klar geworden, dass er das Land würde verlassen müssen. Bolsonaro steht für all das, was Franco zum Verhängnis wurde, was Miranda nun verfolgt, was Wyllys, Tiburi, Diniz und França aus dem Land getrieben hat: die Homophobie, die Misogynie, die toxische Männlichkeit, der Rassismus und der Hass. Unter Bolsonaro wird die Opposition zum Feind. Jean Wyllys aber möchte kein Märtyrer sein.
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